DPT-Zwischenrufe

In der aktuellen Krise stellen sich auch in der Gewalt- und Kriminalprävention drängende Fragen. Der Deutsche Präventionstag bietet mit den DPT-Zwischenrufen prominenten Fachvertreter*innen eine Stimme. Die Audioaufzeichnungen der von Erich Marks geführten Expertengespräche können Sie auf dieser Seite abrufen.

 
 
Eva Groß

41. Zwischenruf: 30. Oktober 2020

Gesellschaft, Polizei, Rassismus und Prävention.
Ein Zwischenruf von Eva Groß
„Schleichende Normalisierungen von Verschwörung, Gewalt und Feindbildern müssen ausgebremst werden.“
  1. Botschaft 1: Wir brauchen präventive Störungen und alternative Inszenierungen der durch Corona Problematisierungen gerahmten und oftmals verschwörungstheoretisch inszenierten, ausgrenzenden Botschaften des autoritär-nationalradikalen Milieus, die Betroffenen der Corona Pandemie realistische Lösungswege aufzeigen. Diese müssen auch staatlich und sozial gerecht umgesetzt werden. Andernfalls geraten wir in eine gesellschaftliche Polarisierungsspirale, die gegenseitige Feindbildkonstruktionen und Ausgrenzung vorantreibt und so politischen Kräften eine Macht verleiht, die die FDGO ernsthaft gefährden. Corona verschärft diese Dynamiken, sie waren jedoch schon vorher wirksam. 
  2. Botschaft 2: Polizei bleibt nicht unberührt von diesen Entwicklungen. Um die Integrität und positive berufliche Identität von Polizist*innen zu bewahren, ist eine Verwissenschaftlichung und damit Versachlichung der hitzigen Debatte um „Rassismus in der Polizei“ ebenso notwendig, wie eine nachvollziehbare und kluge Reaktion der Polizei auf die jüngsten Ereignisse in einer mittlerweile jahrelangen Kette von menschenfeindlichen Vorfällen. Nur so kann das große Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei in Deutschland weiter aufrechterhalten werden und nachhaltige wie wirksame Prävention in dieser besonders verantwortungsvollen Institution stattfinden.
     

Wir erleben krisenhafte Zeiten in Deutschland.

Anzeichen krisenhafter gesellschaftlicher Polarisierung und Radikalisierung gehen von sprunghaften Anstiegen vorurteilsgeleiteter Hasstaten gegen Minderheitengruppen über das Erstarken rechtspopulistischer Parteien und deren diskursive Einflusskraft, „autoritäre Versuchungen“ (Heitmeyer 2018) bis in die Mitte der Gesellschaft, bis hin zur aktuell hitzigen Debatte um Rassismus in der Polizei.

Nach Zick & Küpper (2018) beginnt die gesellschaftliche Dynamik der Radikalisierung über eine kleine Minderheit. Mittels diskursiver Strategien, wie gezielte sprachliche Tabubrüche in Kombination mit Opfernarrativen in einer vermeintlichen Meinungsdiktatur, werden Normverschiebungen angestoßen. Das neue rechte Milieu strebt so nach kultureller Hegemonie im vorpolitischen Raum um gesellschaftliche Deutungsmacht über Signalereignisse und krisenhafte Entwicklungen zu gewinnen. Implizit schwingt in diesen neuen rechten Erzählungen eine autoritär-nationalradikale(1) Ideologie mit, sie schmiegt sich an die demokratischen Deutungsrahmen der Mehrheitsgesellschaft an und baut so diskursive Brücken in die Mitte der Gesellschaft. Sukzessive teilen größere Teile der Gesellschaft so immer weniger die demokratischen Normen der Toleranz und Gleichwertigkeit. Vorurteilsrepression und Unterdrückung von negativen Emotionsäußerungen gegenüber Gruppen verblassen, was die Spirale der Radikalisierung weiter erhitzt und Menschenfeindlichkeit wie Ungleichwertigkeit zunehmend sagbar und normal werden lässt. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF)(2) ist in diesem Prozess zentral. Sie hat eine Scharnierfunktion für anti-demokratische Einstellungen und Radikalisierung von Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft (vgl. Zick/Küpper 2018). Die beschriebenen Mechanismen beschleunigen sich nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Relevanz neuer sozialer Medien in unserer alltäglichen zwischenmenschlichen sozialen Interaktion. Das Web 2.0 erlaubt nicht nur weitausgreifende Mobilisierungs- und Radikalisierungsschübe in Echtzeit; vielmehr lassen die Dynamiken zeit-und raumüberschreitender Kommunikationen die Grenzen zwischen Sender und Empfänger von Online-Botschaften verschwimmen, was zu einer bis dahin unbekannten Verkettung von prinzipiell grenzenlosen kommunikativen Mobilisierungsakten führt.

Digitale und analoge Verschwörungserzählungen, wie die der „Querdenker“, die zuletzt große Anti-Infektionsschutz-Demos organisierten, vermögen genau diese Mechanismen der Radikalisierung in der Mitte zu beschleunigen, online wie offline. Menschen, die vorher schon in den rechten Bereich gekippt sind, kippen in der gegenwärtigen pandemischen Lage noch leichter in Richtung einer ausgrenzenden Ideologie, so meine These. Die Bewegungsakteure der ausgrenzenden Ideologien verstehen es gut, Deutungsrahmen miteinander zu verknüpfen und so die Oberhand über einen Diskurs zu gewinnen, der alle Menschen, durch sämtliche Bevölkerungsschichten hindurch bewegt: Die Sorge im Zuge der Entwicklungen auf Grund der Corona Pandemie. Hier müssen wir als demokratische Gesellschaft genau hinsehen. Wir müssen die Menschen, die berechtigte Sorgen haben, dort abholen und ihnen ein alternatives Narrativ mit realistischen Lösungsansätzen bieten, das überzeugender Gefühle von sozialer Zugehörigkeit und Anerkennung weckt, als es die abwertenden und ausgrenzenden Verschwörungserzählungen des autoritär-nationalradikalen Milieus tun können. Das wäre nachhaltige Prävention gegen Radikalisierung, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und nicht zuletzt auch Hasskriminalität. Die schleichende Normalisierung von Verschwörung, Gewalt und Feindbildern muss ausgebremst werden, indem die existentiellen und materiellen Sorgen der Menschen, die sich durch die Corona Pandemie verschärft haben, ernst genommen werden und auf eine sozial gerechte Weise realistische Lösungswege politisch umgesetzt werden.

Die beschriebenen Entwicklungen machen selbstverständlich nicht vor Polizistinnen und Polizisten Halt. Das Thema Rassismus in der Polizei wird gegenwärtig politisch, gesamtgesellschaftlich, aber auch polizeiintern und polizeigewerkschaftlich hoch umstritten debattiert. Ursache für die aktuelle öffentliche Erregungswelle, mitsamt den bundes- und länderspezifisch uneinheitlichen politischen Forderungen bezüglich einer polizeiunabhängigen wissenschaftlichen Studie zum Thema, ist nicht nur die auch hierzulande aktive Black Lives Matter Bewegung mit ihren ausgreifenden Mobilisierungseffekten. Die jüngst aufgedeckten menschenfeindlichen Chats unter Polizeibeamt*innen wie Verfassungsschützer*innen befeuern vielmehr den schon seit den ersten „NSU 2.0-Aufdeckungen“ entstandenen Eindruck einer demokratietheoretisch problematischen Entwicklung in der Organisationskultur der Polizei, die gruppenbezogene Abwertung im Rahmen von beruflichen Alltagspraktiken und -belastungen zunehmend sagbar werden lässt. Ein Zusammenhang mit den beschriebenen gesamtgesellschaftlichen Radikalisierungen und Polarisierungen liegt nahe. Die besondere gesellschaftliche Verantwortung der Polizei, u.a. durch das Tragen des staatlichen Gewaltmonopols, zwingt sie aber noch mehr als andere Institutionen sich mit den kritischen Blicken und Stimmen der demokratischen Öffentlichkeit auf eine nachvollziehbare und glaubhafte Art auseinanderzusetzen. Nur so können sowohl Integrität, als auch Identität der Polizist*innen als „gute“ Polizist*innen geschützt werden. Eine versachlichte Debatte auf Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist hierfür eine Grundvoraussetzung. Leider scheitert diese gegenwärtig oft an einer Abwehr- und Verteidigungshaltung von einflussreichen Akteuren in der Polizei. In dieser lassen sich zwar bekannte Abwehrmuster erkennen, die schon in den 90er Jahren, zu Zeiten aus denen die letzten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema stammen, in Form von 4 Thesen beschrieben wurden: 1. Einzelfallthese; 2. Relativierungsthese: auch andere Institutionen haben Probleme; 3. Spiegelbildthese: Polizisten auch nur Menschen; 4. Manipulationsthese: linke Medien wollen Polizei diffamieren (vgl. Jaschke et al. 1996). Die Abwehr bezieht sich heute aber insbesondere auch auf eine unterstellte Vorverurteilung alleine durch den Begriff „Rassismus“, der als vorweggegriffenes Ergebnis einer möglichen Untersuchung zu demokratiebezogenen Einstellungen, Werthaltungen und Risikokonstellationen in der Polizei aufgefasst wird. Hier setzt ein Ansatz eines Forscherinnenteams in Hamburg an. Um eine wissenschaftliche Datenbasis zu schaffen und damit zur Versachlichung der Debatte beizutragen wurde ein Ansatz entwickelt, der den Begriff des Rassismus über das Konzept der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit differenziert. Mögliche Risikokonstellationen werden dabei aus den bestehenden Erkenntnissen der Vorurteilsforschung abgeleitet und auf diesem Hintergrund, unter spezieller Berücksichtigung bereichsspezifischer polizeilicher Belastungs- und Alltagssituationen, wie auch den entsprechenden Routinen, untersucht. Deutlich wird aus dieser Perspektive, dass es regelmäßige gesamtgesellschaftliche Untersuchungen zum Phänomen, nämlich der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit, mitsamt den aus der Forschung bekannten Schutz- und Risikofaktoren, bereits seit 2002 gibt,(3) anders als Horst Seehofer dies in seinen jüngsten öffentlichen Statements feststellte.(4) Höchste Zeit also, sich als Polizei nicht in einer diesbezüglichen Sonderstellung zu sehen, insbesondere vor dem Hintergrund der besonderen gesellschaftlichen Verantwortung, die die Polizei trägt. Das wäre nachhaltige Prävention gegen Radikalisierung und Rassismus in der Polizei. Eine solche Prävention braucht wissenschaftlich differenzierte und nicht nur oberflächliche Erkenntnisse zu berufsspezifischen Entstehungszusammenhängen, denn nur auf einer solchen Grundlage können Risikokonstellationen ernsthaft verstanden und entschärft werden um die Integrität der Polizei zu bewahren.   

Homepage
https://akademie-der-polizei.hamburg.de/profs/11946292/eva-grosz-a/

Auswahl Publikationen:
Groß, E. & Neckel, S. (2020 i. Dr.). Social Media und die Bedeutung von Emotionen in autoritär-nationalistischen Radikalisierungsnarrativen. In: A. Hamachers, K. Weber, J. Widmann & S. Jarolimek (Hrsg.), Extremistische Dynamiken im Social Web. Frankfurt a. M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.

Groß, E., Dreißigacker, A., Riesner, L. 2019. „Viktimisierung durch Hasskriminalität. Eine erste repräsentative Erfassung des Dunkelfeldes in Niedersachsen und in Schleswig-Holstein“. In: Wissen schafft Demokratie - Open Access Schriftenreihe des IDZ 4/2019: 140-159.

Groß, E., Hövermann, A. 2018. „Marktförmiger Extremismus – Abwertung, Ausgrenzung und Rassismus vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung des Sozialen“, in Gomolla, M., Menk, M., Kollender, E. (Hg.), Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland - Figurationen und Interventionen in Gesellschaft und staatlichen Institutionen, Beltz-Verlag, 110 - 126.

Groß, E., Hövermann, A., Messner, S. 2018. „Marketized mentality, competitive/egoistic school culture, and delinquent attitudes and behavior: An application of Institutional Anomie Theory“. Criminology Vol. 56 (2), 333-369.

Hirtenlehner, H., Groß, E. 2018. „Einstellung zu „Ausländern“ und Furcht vor Kriminalität“. In: Kriminalistik 3/2018: 169-173.

Freiheit, M., Groß, E., Wandschneider, S., Heitmeyer, W. 2017. Mehrfachtäterschaft im Jugendalter. Soziale Hintergründe und Verläufe wiederholter Delinquenz (Reihe: Analysen zu gesellschaftlicher Integration und Desintegration), Springer VS.

Groß, E. 2016. „Enterprising self and prejudices toward unemployed persons. Analyses of intergroup-mechanisms that substantiate neoliberal inequalities”.  Zeitschrift für Soziologie, 45(3): 162-180.

Grau, A., Groß, E., Reinecke, J. 2012. „Abgehängte Sozialräume - Die Bedeutung von Jugendarbeitslosigkeit für Orientierungslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit“, in: Heitmeyer, W. (Ed.), Deutsche Zustände. Folge 10., Berlin, Suhrkamp, S. 129-150.


(1) Heitmeyer (2018) beschreibt das neue rechte Milieu als „autoritären Nationalradikalismus“, eine Formel, die den schwammigen Begriff Rechtspopulismus ersetzen soll. Der begriffliche Rahmen „autoritärer Nationalradikalismus“ fasst unterschiedliche inhaltliche und formale Ebenen zusammen: „…prägende Einstellungsmuster, zentrale programmatische Aussagen zu ‚bewegenden Themen‘ und den Mobilisierungsstil“ (ebd.). Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist in Deutschland eine zentrale Protagonistin des autoritären Nationalradikalismus, die PEGIDA Bewegung, spätestens seit den Trauermärschen in Folge der Ereignisse in Chemnitz, ihre außerparlamentarische Verbündete (Stark 2018, Holscher & Meyer zu Eppendorf 2018). Ihr Mobilisierungsstil sei ein rabiat-emotionalisierter, der insbesondere mit menschenfeindlichen Grenzüberschreitungen operiere (Heitmeyer 2018: 235). Der neue Typus sei zwischen einem ideologisch „flachen“ (ebd.: 235) Rechtspopulismus und einem gewaltförmigen Rechtsextremismus/Neonazismus zu verorten.

(2) Zum Begriff siehe Heitmeyer 2002.

(3) „Deutsche Zustände“ & Mitte Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld.

(4) PK vom 06.10. z.B. https://www.facebook.com/derspiegel/videos/2697125940602997/ (Minute ca. 11:50)

 

Ingo Siebert

40. Zwischenruf: 22. September 2020

Erich Marks im Gespräch mit Ingo Siebert
„Prävention bedeutet immer auch: Zusammenhänge zu erhellen und Haltungen und Einstellungen zu verändern.“

Heute ist Dienstag, der 22. September 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Ingo Siebert.  Herr Siebert ist Stadtsoziologe und kommissarischer Leiter der Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt.

Herr Siebert, ich begrüße Sie herzlich zu diesem Zwischenruf und bedanke mich für Ihre Bereitschaft uns Rede und Antwort zu stehen. Kommen wir zur ersten meiner heutigen drei Fragen:

Womit beschäftigen Sie sich im Moment?
Kurz vor dem Deutschen Präventionstag trifft sich der Berliner Präventionstag und erstmalig in der Geschichte der Berliner Präventionstage am 25. September 2020 eben auch digital. In Berlin ist das so was wie die Vollversammlung der Landeskommission Berlin gegen Gewalt, dem zentralen Präventionsgremium in der Stadt. Menschen, die sich beruflich oder ehrenamtlich gegen Gewalt und für ein friedliches Miteinander einsetzen, diskutieren diesmal im Netz ihre Strategien. Sie kommen aus der Schule, der Jugendarbeit, der Polizei, dem Sport, der Kulturarbeit, aus der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und verschiedenen Verwaltungen.

Unter dem Titel #DigitalGegenGewalt finden Vorträge, Workshops und die Prämierung der Preisträgerinnen unseres Wettbewerbes „<3- Speech“ (sprich Love-Speech) statt. Schwerpunkt in diesem Jahr ist die Frage, wie wir Hass, Extremismus, Cybergromming und Cybermobbing bekämpfen und wie Prävention im Internet organisiert werden kann. Eins ist klar: Die Prävention im Netz bringt neue Herausforderungen mit sich, denn das Gegenüber ist häufig gesichts- und namenlos, erstmals scheinbar nicht greifbar. Durch Corona noch beschleunigt, werden Präventionsakteure vor neue Herausforderungen gestellt: technisch, methodisch und juristisch.

Was ist Ihr Anliegen für den heutigen Zwischenruf?
Große Sorgen machen mir der Rechtsextremismus und der Hass im Netz. Wie kann man die Gegenwehr im Internet organisieren. Hasspostings und Hassmails mit beleidigenden und verleumdenden Inhalt können jede und jeden treffen, der sich im öffentlichen Leben zeigt oder in sozialen Netzwerken äußert.

Das bedroht die Meinungsfreiheit, unser gesellschaftliches Miteinander und unser demokratisches System, denn Hass im Netz schürt Angst, Angst sich zu äußern und Angst sich politisch oder zivilgesellschaftlich zu engagieren.
Es geht darum in der gesamten Internet-Community ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass jeder Einzelne gefordert ist Haltung zu zeigen und sich zu positionieren. Schweigen und wegklicken ist einfach, überlässt der anderen Seite aber den Raum.

Wir kommen um die Verantwortungsübernahme eines jedes Einzelnen nicht drum rum.
Spannend finde ich in diesem Zusammenhang eine Studie, die besagt, dass, wenn man Gegenwehr im Internet organisiert, der Hass abnimmt. Die Studie basiert auf der Grundlage von deutschsprachigen Tweets aus den Netzwerken der rechten Trollarmee «Reconquista Germanica» und des von Fernsehmoderator Jan Böhmermann initiierten Gegenentwurfs «Reconquista Internet». Anhand dieser Tweets programmierten die Forschenden einen Algorithmus, der Hassrede und Gegenrede sowie deren Wechselbeziehung erkennen kann. Einfach ausgedrückt: Gegenrede führe, so die Studie, einen zivilisierteren Diskurs herbei, wenn sie organisiert sei.

Und was bewegt Sie zurzeit?
Seit 30 Jahre befasse ich mich mit Rechtsextremismus in Deutschland und ich bin grade fassungslos, dass die Entwicklungen hier immer noch unterschätzt und verharmlost wurden. In diesem Jahr zeigt sich deutlich, wenn wir auf die Anschläge vom Hanau und Halle, den Ereignissen vor dem Reichstag vor wenigen Wochen und den jüngsten Skandal der Rechtsextreme Chatgruppen der NRW-Polizei schauen, dass wir robustere Präventionsstrategien im internet und den Sozialen Medien brauchen. Wir brauchen eine Kultur den Hinsehens und des demokratischen Aneignen digitaler Räume. Methodisch stehen wir hier erst am Anfang und wir müssen schneller und mit mehr Qualität agieren. Auch im Netz stellt sich die Frage nach der inhaltlichen und praktischen Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Professionen der Prävention. Wir sehen das Netz ist ein zentraler sozialer Raum geworden, aber wenden hier häufig Regeln und Methoden, die zum Beispiel im Stadtraum gelten, nicht. Beispielsweise haben wir erst durch die Pandemie mehr Erfahrung mit «Online-Streetwork«. Auch für das Netz gilt: unsere Aufgabe ist, mit Kommunikation, politische Aufklärung und sozialer Arbeit, Risikofaktoren für gewalttätigen Handeln zu minimieren und Schutz vor Gewalt zu organisieren. Prävention bedeutet immer auch: Zusammenhänge zu erhellen und Haltungen und Einstellungen zu verändern.

Herr Siebert, ich danke Ihnen für diesen Zwischenruf, wünsche Ihnen einen erfolg- und erkenntnisreichen digitalen Berliner Präventionstag in dieser Woche und bleiben Sie gesund.

https://www.berlin.de/lb/lkbgg/aktivitaeten/praeventionstage/2020/#programm

Obaidullah Tanha

39. Zwischenruf: 18. September 2020

Erich Marks im Gespräch mit Obaidullah Tanha
„Wir hoffen, dass unsere Arbeit in Afghanistan zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit beiträgt, die von der Jugend gefördert wird.“

Today is Wednesday, 16 September 2020. I am Erich Marks and, as CEO of the German Prevention Congress, I am pleased about your interest in our interim calls for prevention.

I would like to welcome Mr. Obaidullah Tanha on the telephone in the Afghan capital Kabul. Mr Tanha is the coordinator of the Civil Peace Service (ZFD) of the German Society for International Cooperation (GIZ) in Afghanistan.

Mr. Tanha, I welcome you warmly, thank you for your willingness to make this interview. May I first ask you, which challenges for prevention work do you consider to be particularly important at present and in general?
It has been almost 4 decades that Afghanistan suffers from civil war. The current generation of young people has also grown up in conflict and violence, so it is very common that they use violence as a mean to solve problems. In many cases they see actions of violence as a tradition or connect it to religion, specially the violence they do against women. Therefore, violence prevention work is most likely to change the mindset or believe of people. The Corona crisis adds to the existing problems, because all family members are at home all the time and many people are jobless. Those who worked as daily workers lost their income and providing bread to the family is very hard. Additionally, Corona provokes another kind of stress that often leads people to violence. As gatherings are not possible, we cannot contribute enough working on violence prevention. We as the Civil Peace Service (CPS), focus our methods and approaches on people interacting and exchanging very closely with each other. Of course, we are doing our trainings now partly by digital means. However, this cannot substitute the physical presence of people.  

What is the central concern of your message today?
The Afghanistan government has intra-afghan talks with Taliban ahead, and it is not clear if the talk will lead to peace. Nobody knows if an agreement will be reached or what will happen to the achievements we made in the last 19 years such as: freedom of women, freedom of speech, personal freedom, improvement of the education system etc….. I can personally not imagine that these freedoms could be limited as a condition for peace. And if there is no agreement – for how long will the war continue? Beside this, I see people who had no income in the last 3-4 months and there is no compensation by the state. Their life condition is very poor, they need urgent support.

The above-mentioned situation stresses the people and as they don’t know how to cope with stress, some of them turn to violence which harms themselves and others around them. The youth suffers very much from the current situation. Through life skills elements, we as Civil Peace Service (CPS), work with the youth to support them in coping with stress, and dealing constructively with their emotions and not losing their hope. In our trainings we focus on how to help oneself and those around you by avoiding violence. In such a difficult situation CPS’ work on prevention of violence is very important and helpful. We see that those young people with whom we work behave differently, they are able to control or deal with their anger. Their family members are happy for their contribution in creating a peaceful environment in the family and preventing actions of violence among siblings and others around.

In conclusion, I would like to ask you to give a brief summary of your concerns today.
We hope that our work as CPS contributes to a culture of peace and nonviolence promoted by the youth. Corona is a concern, which worries us a lot in relation to our work. As the Afghan state cannot provide enough services, a second wave of the pandemic will be very hard for us to cope with. It is not only because of the physical losses, but it also harms people mentally and mental services are very poor in this country. At the same time we hope very much for the peace talks to start and to end in a satisfying result, so that the people can live in a peaceful environment after decades of war.

Mr Tanha, thank you very much for your interjection today. I wish you every success and the necessary resources for your continued engagement, and remain healthy.

Heute ist Mittwoch, der 16. September 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon in der Afghanischen Hauptstadt Kabul Herrn Obaidullah Tanha. Herr Tanha ist Koordinator des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Afghanistan.
Herr Tanha, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit erscheinen Ihnen aktuell und generell besonders wichtig?

Afghanistan leidet seit fast vier Jahrzehnten unter einem Bürgerkrieg und auch die heutige Generation junger Menschen ist in Konflikten und Gewalt aufgewachsen. Gewalt als Mittel zur Lösung von Problemen einzusetzen ist leider weit verbreitet. In vielen Fällen sehen vor allem junge Menschen Gewalthandlungen als Tradition oder verbinden sie mit Religion. Insbesondere die Gewalt gegenüber Frauen ist von solcher Motivation bestimmt. Daher ist die Präventionsarbeit so wichtig, sie kann Einstellungen oder Narrative von Menschen verändern. Die Corona-Krise schärft die bestehenden Probleme im Land dadurch, dass deutlich mehr Familienmitglieder konstant zu Hause versammelt sind und viele Menschen ihre Arbeit verloren haben. Denjenigen, die als Tagelöhner gearbeitet haben, bricht ihr Einkommen weg, und die Versorgung der Familie mit einfachen Lebensmitteln ist schwierig. Darüber hinaus provoziert die Corona-Krise eine andere Art von psychischem Stress, der die Menschen oft zu Gewalt führt. Da Versammlungen nicht möglich sind, können wir als Programm derzeit nicht genug zur Gewaltprävention beitragen. Als Ziviler Friedensdienst (ZFD) konzentrieren wir unsere Methoden und Ansätze darauf, dass Menschen sehr eng miteinander interagieren und sich austauschen. Natürlich machen wir unsere Trainings jetzt teilweise mit digitalen Mitteln. Dies kann jedoch die physische Anwesenheit von Menschen nicht ersetzen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Die afghanische Regierung hat Gespräche mit den Taliban vor sich, wobei nicht klar ist, ob diese Gespräche zu Frieden führen werden. Niemand weiß, ob ein Abkommen zustande kommt oder was mit den Errungenschaften geschieht, die wir in den letzten 19 Jahren erreicht haben, wie z.B.: Freiheit der Frauen, Meinungsfreiheit, persönliche Freiheit, Verbesserung des Bildungssystems usw... Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass diese Freiheiten als Voraussetzung für den Frieden eingeschränkt werden könnten. Und wenn es keine Einigung gibt - wie lange wird der Krieg weitergehen? Daneben sehe ich Menschen, die in den letzten 3-4 Monaten kein Einkommen hatten, und es gibt keine Entschädigung durch den Staat. Ihre Lebensbedingungen sind sehr schlecht, sie brauchen dringend Unterstützung.

Die oben erwähnte Situation belastet die Menschen sehr. Weil viele von ihnen nicht wissen, wie sie mit Stress umgehen sollen, wenden sich einige der Gewalt zu, die ihnen selbst und anderen in ihrer Umgebung schadet. Die Jugend leidet besonders stark unter der gegenwärtigen Situation. Daher setzen wir als Ziviler Friedensdienst (ZFD) bei der Förderung von Jugendlichen an. Durch das Training bestimmter „Life skills“ unterstützen wir die jungen Menschen dabei, mit Stress umzugehen, konstruktiv mit ihren Emotionen umzugehen und ihre Hoffnung nicht zu verlieren. In unserer Arbeit konzentrieren wir uns darauf, wie das Meiden von Gewalt einem selbst und seinen Mitmenschen hilft. Gerade in der jetzigen schwierigen Situation ist die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes zur Gewaltprävention sehr wichtig und hilfreich. Wir sehen, dass die jungen Menschen, mit denen wir arbeiten, sich anders verhalten, sie sind in der Lage, ihre Wut zu kontrollieren. Ihre Familienmitglieder freuen sich über ihren Beitrag zur Schaffung eines friedlichen Umfelds in der Familie und zur Verhinderung von Gewalttaten unter Geschwistern und anderen Personen in ihrer Umgebung.

Abschließend bitte ich Sie noch um eine kurze Zusammenfassung Ihres heutigen Anliegens.
Wir hoffen, dass unsere ZFD-Arbeit zu einer Kultur des Friedens und der Gewaltlosigkeit beiträgt, die von der Jugend gefördert wird. Die Corona-Krise ist ein Anliegen, das uns im Zusammenhang mit unserer Arbeit sehr beunruhigt. Da der afghanische Staat nicht genug Leistungen erbringen kann, wird eine zweite Welle der Pandemie für uns sehr schwer zu verkraften sein. Sie ist nicht nur wegen der physischen Verluste eine Herausforderung, sondern schadet den Menschen auch psychisch. Das trifft die Bevölkerung besonders hart, da psychische Unterstützung ist in diesem Land kaum vorhanden ist. Gleichzeitig hoffen wir, dass die Friedensgespräche beginnen und mit einem zufriedenstellenden Ergebnis enden, so dass die Menschen nach Jahrzehnten des Krieges in Frieden leben können.

Herr Tanha, ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihren heutigen Zwischenruf, wünsche Ihnen für Ihr weiteres Engagement viel Erfolg und die erforderlichen Ressourcen, und bleiben Sie gesund.

Christian Kromberg

38. Zwischenruf: 16. September 2020

Erich Marks im Gespräch mit Christian Kromberg
„Nur durch vernetztes Handeln und einen 360°-Blick können wir die Pandemie bewältigen, lebenswerte Städte gestalten und das friedliche Zusammenleben in einer sich ausdifferenzierenden und vielfältigen Gesellschaft förden.“

Heute ist Mittwoch, der 16. September 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Christian Kromberg.  Herr Kromberg ist Beigeordneter für Allgemeine Verwaltung, Recht und öffentliche Sicherheit und Ordnung der Stadt Essen. Er ist Mitglied der Kommission „Mehr Sicherheit für Nordrhein-Westfalen“ sowie Vorsitzender des Deutsch-Europäischen Forums für urbane Sicherheit (DEFUS).

Herr Kromberg, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit erscheinen Ihnen aktuell und generell besonders wichtig?

Wie in vielen anderen Bereichen, sind die Kommunen auch in der Corona-Zeit die Verwaltungsebene, die in direktem Kontakt mit den Bürger*innen steht und viele in den Landeshauptstädten und Berlin getroffene Entscheidungen umsetzen muss. Und es ist die Ebene, die als erstes in die Kritik gerät und den Unmut der Bürger*innen zu spüren bekommt.

Die Corona-Pandemie ist eine Dauerkrise, die unsere Stadtverwaltung in einem Ausmaß getroffen hat, wie wir es nie erwartet hätten. Es gab kein Bereich der Verwaltung, der nicht davon berührt gewesen wäre. Wir mussten unsere kommunalen Verwaltungsstrukturen umstellen und alle Fachbereiche sind zeitweise in die Stabsarbeit übergegangen.

Die Gesundheitskrise hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Menschen. Nur gemeinsam und in Abstimmung mit wirklich allen Verwaltungsbereichen können wir die erforderlichen und sich dauernd ändernden Hygienevorschriften umsetzen.

Was uns in der Pandemie inzwischen ganz gut gelingt, nämlich vernetzt, abgestimmt und gemeinsam handeln, das muss uns auch in anderen Bereichen wie der Prävention und Fragen der urbanen Sicherheit noch besser gelingen – und dafür brauchen die Kommunen auch Unterstützung von Bund und Ländern.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Kommunen sind maßgeblich für die alltägliche Gewährleistung der Sicherheit und des gesellschaftlichen Friedens verantwortlich. Das friedliche Zusammenleben einer immer diverser werdenden Gesellschaft zu organisieren und dabei die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit nicht zu verlieren, ist eine der zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre. Kommunen müssen die Integration verschiedener Kulturen und Lebensentwürfe leisten sowie ausdifferenzierte gesellschaftliche Bedürfnisse mittragen und managen. Hinzu kommen zunehmende Nutzungs- und Interessenskonflikte im öffentlichen Raum, die ebenfalls von der Kommune demokratisch ausgehandelt und gelöst werden sollen.

Eine Stadtverwaltung ist auch auf dem Feld der kommunalen Sicherheit ein „Gemischtwarenladen“. So sind u.a. das gesamte Feld des Katastrophenschutzes, der Schutz der Kritischen Infrastruktur, die IT-Sicherheit, die Extremismusprävention, die Organisation der Migration kommunale Aufgaben. Wir müssen unser Verständnis für die kommunale Sicherheitsproduktion überdenken und an die aktuellen Herausforderungen anpassen.

Zentraler Kernpunkt dieses neuen Denkens ist die Verwundbarkeit moderner Gesellschaften, insbesondere der Städte als hochkomplexe Lebensräume. Die hochgradigen Vernetzungen und Verflechtungen, auf denen das Leben und der Reichtum postindustrieller Gesellschaften beruhen, sind zugleich deren Schwachstelle. Die informations- und kommunikations-, versorgungs- und verkehrstechnischen Strukturen gelten als verwundbar. In Pandemiezeiten ist uns das deutlicher als je zuvor: Zirkulierenden Menschen- und Warenströme können neben vielem Guten, eben auch zur rasanten Verbreitung von Pandemien führen. Es wird von einer „inneren Verletzbarkeit“ des modernen Lebens ausgegangen. Dadurch wird es zur wesentlichen Aufgabe eines kommunalen Sicherheitsmanagements, die Leistungsfähigkeit „vitaler Systeme“ aufrecht zu erhalten. Mit einer solchen Sichtweise muss nach eine Neupositionierung der Städte als ‚Produzenten von Sicherheit‘ einhergehen.

Essen ist Mitglied im Europäischen Forum für Urbane Sicherheit, in dem sich 260 europäische Städte zusammengeschlossen haben und sich zu der allen Themen der urbanen Sicherheit austauschen, und ist im Vorstand des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit. Als Städtenetzwerk fordern wir auch auf europäischer und deutscher Ebene schon länger, dass die zentrale Rolle der Städte bei der Gewährleistung von Sicherheit anerkannt und dementsprechend auch unterstützt wird. Die Efus Mitglieder, darunter auch 19 deutsche Groß- und Mittelstädte, haben in einem Manifest ihr Verständnis, ihre Forderungen aber auch eine Selbstverpflichtung zu einem inklusiven und integrierten Ansatz der urbanen Sicherheit festgehalten. Das ist ein absolut lesenswertes Dokument!

Sicherlich auf vielen Feldern sind die Städte gut aufgestellt. Die Feuerwehr als Träger des Zivil- und Katastrophenschutzes, das Jugendamt, aber auch Institutionen wie „Wegweiser“ als Experten im Rahmen der Extremismusprävention in Essen, sind Garanten für ein gutes Sicherheitsmanagement.

Kern des Sicherheitsmanagements vor Ort ist es, mit einem 360° Grad Blick urbanes Zusammenleben und urbane Sicherheit zu betrachten und gut abgestimmte, koordinierte und strategische zu bearbeiten. Vor Ort, in den Kommunen, funktioniert die Zusammenarbeit mit der Polizei, den zivilgesellschaftlichen Organisationen und sozialen Trägern meist gut. Selbstkritisch anzumerken ist allerdings, dass in den meisten Kommunen nicht ausreichend und entsprechend qualifiziertes Personal für die Koordination der Sicherheits- und Präventionsarbeit vorgehalten wird.

Richten wir den Blick auf die Landes- und Bundesebene, müssen wir feststellen, dass es zwar Landespräventionsräte gibt, aber der in NRW ist schlecht ausgestattet und wird zu wenig gehört. Auch der Bundeseben gibt es gar kein ressortübergreifendes Gremium das die Politik, Strategien und Maßnahmen zur Reduktion von Gewalt und Kriminalität bündelt. Stattdessen sehen wir eine Vielzahl von Einzelthemen und Strategien.

Deswegen braucht es ein nationales Gesetz zur Prävention von Gewalt und Kriminalität, das über die bisherige Praxis einer oft spät einsetzenden Intervention und kurzfristigen Reaktion auf Kriminalität und Gewalt hinausgeht. Auf Grundlage dieses Gesetzes sollte eine nationale Strategie der Gewalt- und Kriminalprävention erarbeitet und Rahmenempfehlungen für Länder und Kommunen aussprechen.

Zielführend wäre die Einrichtung einer nationalen Gewaltpräventionskonferenz, in der die Bundes-regierung gemeinsam mit den relevanten Organisationen, bundesweit sind es ungefähr 8, die sich mit diesem Thema befassen, und der Wissenschaft gemeinsam planen wie und in welchen Strukturen die bundesweite Zusammenarbeit zukünftig besser koordiniert, strukturiert und die evidenzbasierte Kriminalprävention in Deutschland sowohl inhaltlich als auch in der Umsetzung in den Ländern und Kommunen langfristig vorangetrieben werden kann. Mit diesem Vorgehen würde Deutschland internationalen Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der UN Behörde zur Bekämpfung von Drogen und Organisierter Kriminalität (UNODC) entsprechen.

Übrigens ist das auch eine Forderung der vom Land NRW eingesetzten der Regierungskommission „Mehr Sicherheit für Nordrhein-Westfalen“, die unter dem Vorsitz von Herrn Bosbach Anfang August ihren Abschlussbericht vorgelegt hat und der ich angehörte.

Darf ich Sie abschließend noch um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen bitten:
Innerhalb der Stadtverwaltungen müssen wir vernetzt handeln, um unsere Städte aktuelle Herausforderungen zu meistern und fit für die Zukunft zu werden. Das heißt wir dürfen Themen nicht isoliert und einseitig betrachten, sondern müssen mit einem 360° Grad Blick Zusammenhänge, Ursachen, Folgen und Lösungsansätze erfassen und gemeinsam über Fach- und Ressortgrenzen mit der Zivilgesellschaft angehen. Das gilt nicht nur für die Corona-Krise! Auch bei Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und Themen der urbanen Sicherheit sind das die Ansätze, die Wirkung zeigen. Auch auf der Bundes- und Landesebenen würde ich mir so einen Ansatz wünschen, der die Arbeit der Kommunen mit periodischen Sicherheitsberichten und einer bundesweiten gesamtgesellschaftlichen Präventionsstrategie unterstützt. Die wichtige Rolle der Städte bei der Gewährleistung von Sicherheit und der Stärkung des sozialen Zusammenhalts muss anerkannt werden!

Herr Kromberg, ich danke Ihnen für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Lothar Janssen

37. Zwischenruf: 16. September 2020

Erich Marks im Gespräch mit Lothar Janssen
„Schulen in Corona-Zeiten: Was hat sich bewährt, was hält und ist dann (weiterhin) nachhaltig?“

Betr.: DPT-Zwischenruf vom 16. September 2020

Wir fahren mit dem Ruderboot in eine Nebelwand hinein: Ist es dahinter schön oder weiterhin neblig (Peter von Matt) – eine prosaisch-psychologische Betrachtungs- und Auslegeweise:
Schulen in Corona Zeiten, Kultur vs. Strategie: Was hat sich bewährt, was hält bzw. ist dann (weiterhin) nachhaltig?

Zu meiner Person:
61 Jahre alt, Studium der kath. Theologie in Bonn und Tübingen, dann Studium der Psychologie in Zürich.
Psychotherapeutische Zusatzausbildungen, Psychologischer Psychotherapeut.
Berufliche Arbeitsfelder:
Beratung von Schulsystemen, vom Kindergarten, Grundschule, Hauptschule bis zum Gymnasium, wo ich auch noch unterrichte als Religions/Psychologielehrer und Schülerberater bin. (Hauptsächliche Altersgruppe 12 bis 23 Jahre.)
Mitarbeit psychotherapeutisch in einer psychiatrischen Praxis und vor 10  Jahren Mitgründer vom SIFG, Schweizer Institut für Gewaltfragen: Tagungen zur Gewaltprävention bis hin zu schwerer Gewalt. Was ist state of the art? Zahlreiche Zusatzausbildungen in diesem Bereich.

Da ich viele Anfragen aus dem schulischen Bereich bekomme, kommen diese (An)fragen zugespitzt in Corona Zeiten im Sinne von: «Was können wir da und da machen, oder: «Dem oder der geht es nicht gut», egal ob Kind oder Erwachsener, ganz unterschiedlich bei mir an im Hören und Mitdenken: Die «einen» sehr unaufgeregt trotz der Ausnahmesituation, offen auch ihre Ängste kommunizierend bis zum Teil in den privaten Bereich hinein, die «anderen»  auch sehr bemüht, aber eben zu bemüht und immer wieder Sicherheiten fordernd im Sinne von : «Wenn ich das und das richtig mache, dann ist das ja ok.»
Es bewahrheitet sich sehr die Aussage «in ausserordentlichen Situationen reagiert der Mensch ausserordentlich». Und: Aussagen zu einer  sinnvollen Prävention halten ihr Standing auch in Ausnahmesituationen aus meiner Sicht, wenn sie vorher eingeübt, gelebt und umgesetzt wurden und nicht als Papiertiger oder als Mantra ohne lebendigen Inhalt verendet sind. Das wirkt zwar nach aussen sehr korrekt, ist aber ein absoluter Killer, denn:
Culture eats Strategy for Breakfast: Ständig wird umstrukturiert und evaluiert. Kultur und Prävention sterben quasi hier eine Art Heldentod, weil nach aussen alles scheinbar  stimmt, aber die Stimmung kippt wie bei dem Seerosenparadoxon, wo scheinbar plötzlich der Weiher stirbt, weil alles formularmässig zugewachsen ist und keine Luft mehr zum Atmen da ist.
So verschwinden ganze Biotope und Schulen sollten doch auch Biotope sein, damit Kinder und Jugendliche sich entfalten und wachsen können. Solche Schulen sind schlecht vorbereitet auf diese Zeiten, wenn dann noch Umstrukturierungen im Sinne von ,»jetzt erst merken wir, dass ...» stattfinden werden alle verunsichert, da keine Glaubhaftigkeit vorhanden ist, weil man(n) am Kurs zu stur festgehalten hat. Schulen, die vorher Krisen als Krisen akzeptiert und  offen kommuniziert haben und sie nicht nur rein verwaltungsmässig abarbeiten, haben die besten Chancen, eine tragfähige Gemeinschaft zu bleiben und sich auch in ausserordentlichen Situationen weiterzuentwickeln. Ich habe das in eindrücklicher Art und Weise in einem Schulsystem erlebt, wo sich ein Jugendlicher in dieser Corona Zeit suizidiert hat: Alle, von oben bis unten, haben alles mitgetragen, miteinander geredet und sich daran abgearbeitet,  soweit es ging , eine grosse Wunde ist geblieben und ist auch allen bewusst.

Beispielhaft führe ich fünf Leitsätze an, die mir immer sehr geholfen haben:

  1. Gewaltprävention ist integrativer Bestandteil permanenter Schulentwicklung.
  2. Programme ersetzen die persönliche Haltung nicht!
  3. Lob der Struktur: Feste Laufwege und klare Ansprechpartner/innen.
  4. Die Schülerinnen und Schüler beteiligen sich aktiv an der Gestaltung und Aufrechterhaltung von Regeln und Anlässen, die dem ebenso lustvollen wie lernfreudigen Zusammenleben dienen.
  5. Handelnde Akteure sollten sich in Friedenszeiten bereits gut kennen lernen.

Was hat das mit der Corona Zeit zu tun?
Als die Schulen Mitte März geschlossen wurden, stellten sie sich in kürzester Zeit auf den Fernunterricht ein. Lehrpersonen und Schulleitungen mussten sich umgehend und gezwungenermassen  Kenntnisse über geeignete Medien und Formate für den digitalen Unterricht aneignen und mit kreativen Mitteln eine Klassen-und Schulgemeinschaft sichtbar und spürbar machen.
Was hat die Schülerinnen und Schülerin in der Krisensituation gestärkt hat, wie gehen sie Unsicherheiten um?
Konkret: In einem Schulsystem im Zürcher Oberland in Hombrechtikon, wo ich seit über 20 Jahren mitarbeite, haben wir Peacemaker/Innen (Streitschlichter/Innen nach den obengenannten Aussagen) eingeführt vor ca. 15 Jahren, die bis heute erfolgreich sind und weiterhin Bestand haben und auch erfolgreich evaluiert worden sind als Teil einer lebendigen Schulkultur im peer to peer.

Warum? Weil wir uns eine Haltung vor Jahren (hart) erarbeitet haben vor Corona mit den obengenannten Aussagen und sie versuchen vorzuleben mit dem gesamten Lehrkörper bis hin zu den Hausmeistern. Das hält auch im Fernunterricht.

Dann ist es auch wie selbstverständlich, dass unsere Peacemaker/Innen sich bei uns melden, wenn es jemand im Lock down ganz schlecht geht und sie nicht das erst bei der Schulöffnung erst mitteilen.
So können Krisen auch in Corona Zeiten erfolgreich angegangen werden. Das bestärkt und stärkt die Gemeinschaft in diesen bewegten Zeiten, in den eingangs erwähnten Worten von Peter von Matt, ehemaliger Germanistikprofessor an der Universität Zürich: «Wir fahren mit dem Ruderboot auf eine Nebelwand zu und wissen nicht, ob es dahinter schön oder weiter neblig ist.»
Im Sinne einer gelebten Schulkultur sind solche Spannungen wesentlich besser auszuhalten als sich durch nur Strategien ständig Scheinsicherheiten zu erschaffen. Oder Leute werden Opfer von Cyberbullying, wir erfahren es sofort und nicht, nachdem sich die Geschichte (brutalst) verfestigt hat.

Gute Nachrichten und ein vorläufiges Fazit: Wir können unseren gelebten Präventionsgrundsätzen mega, wie Jugendliche sagen würden, vertrauen.
Das beruhigt ungemein in diesen unruhigen Zeiten. Und die Schulgemeinschaft schafft auch diese ausserordentliche Krise, weil alle ernstgenommen werden. Solche Schulen werden psychisch gut überleben und nicht nur äusserlich und verwaltet funktionieren. Das Prinzip der Selbstwirksamkeit durch am gleichen Strang in die richtige Richtung ziehen (rudern) schon vor Corona bewirkt auch, dass Schülerinnen und Schüler besser lernen können.
Alle kennen sich in friedlichen Zeiten, es «tauchen» nicht ständig neue Player auf, die Bürokratie drängt sich nicht in den Vordergrund mit dem Vorwand der Korrektheit. So kann Schule als Ort der sozialen Kontakte und des Lernens weiter gelingen.
«Entweder wir hängen uns alle zusammen oder wir hängen allein.» (nach Adolf Muschg)

Lothar Janssen im September 2020
Lothar.janssen@sifg.ch

Buchempfehlung:
Egbers/Himmelrath (Hrsg.): Das Schuljahr nach Corona. Hep-Verlag 2020

 

Prof. Dr. Andreas Beelmann

36. Zwischenruf: 01. September 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Andreas Beelmann
„Wissenschaftliche Expertise ist keine Meinung.“

Heute ist Dienstag, der 1. September 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Psychologen Prof. Dr. Andreas Beelmann.  Herr Beelmann ist Professor für Forschungssynthese, Intervention und Evaluation am Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des dortigen Zentrums für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration sowie  ein international renommierter Präventionsforscher.

Herr Beelmann, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf zum Themenkomplex der Rolle von wissenschaftlichen Erkenntnissen in Praxis, Öffentlichkeit und Politik. Wir erleben in den zurückliegenden Wochen und Monaten eine starke Präsenz von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in den Medien. Ist das Interesse an Wissenschaft in der Gesellschaft im Zuge der Coronakrise gewachsen?

Das Interesse an Wissenschaft ist im Moment zweifellos groß und einzelne Experten haben einen enormen Bekanntheitsgrad erlangt. Das geht mit einem deutlichen Anstieg des Ansehens von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern einher, wie eine ganz aktuelle Studie des Allensbach-Instituts belegt: Wissenschaftler gehören demnach nach Ärzten und Richtern zu den vertrauenswürdigsten Berufsgruppen. Das ist aus unserer Sicht natürlich gut. Doch bei genauerer Betrachtung ergibt sich ein ambivalenteres Bild.

Inwiefern?
Nun, das aktuell deutlich gewachsene Ansehen von Wissenschaftlern bedeutet nicht unbedingt ein gewachsenes Vertrauen in wissenschaftlichen Erkenntnissen.  In der genannten Studie geben 37 Prozent der Befragten - also ein gutes Drittel - auch an, dass sie der Wissenschaft gegenüber misstrauisch eingestellt sind. Und - problematischer aus meiner Sicht - über die Hälfte der Befragten sagt, dass bei politischen Entscheidungen die Stimme der Wissenschaft nur eine von mehreren sein soll. Wissenschaftliche Expertise wird offenbar als Meinung gesehen, als eine Sichtweise, die zu berücksichtigen ist, zu der es aber Alternativen, nämlich andere Meinungen gibt. Das halte ich für ein gravierendes Problem und wird der Bedeutung von Wissenschaft nicht gerecht.

Sollten Wissenschaftler stärker in politische Entscheidungen einbezogen werden?
Wissenschaftler können keine politischen Entscheidungen treffen. Dafür haben sie kein Mandat. Aber ihre Stimme sollte deutlich mehr Gewicht haben, als die der Öffentlichkeit oder anderer Berufsgruppen. Wenn Sie sich beispielsweise das Bein brechen, gehen Sie zum Arzt und fragen nicht einen Schauspieler oder einen anderen Betroffenen, was er oder sie dazu meint. In ähnlicher Weise sollte man bei Fragen der Kriminalitätsprävention auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen entscheiden und nicht nach politischer oder öffentlicher Meinung. Das bedeutet natürlich nicht, dass es keine schlechten Ärzte oder Wissenschaftler gibt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich aus professioneller Expertise wirksame Handlungsoptionen ergeben, ist doch um ein Vielfaches höher.

Man könnte argumentieren, Wissenschaftler müssten sich häufiger und vielleicht auch klarer zu Wort melden, um ihre Erkenntnisse in die politische Praxis und die Öffentlichkeit zu transferieren.
Was den Wissen- und Erkenntnistransfer angeht, muss man zwei Aspekte unterscheiden. Erstens die Sachebene, also wie Fachwissen in praktisches oder politisches Handeln übergeht. Wenn wir beispielsweise anraten, verstärkt soziale Trainingsprogramme, die evidenzbasiert sind, in Schulen und anderen Kontexten einzusetzen, dann könnte man den Erfolg des Transfers danach beurteilen, ob solche Programme tatsächlich dort eingesetzt werden. Der zweite Aspekt von Wissenschaftstransfer liegt auf einer Metaebene und basiert darauf, wie Politik, Praxis und Öffentlichkeit die Wissenschaft insgesamt sehen. Welche Vorstellung haben sie über Wissenschaft? Was verbinden sie mit dem Begriff Wissenschaft? Was halten sie von Wissenschaft? Und da gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass es häufig falsche Wahrnehmungen gibt, aus denen Missverständnisse entstehen, oder gar abwertende Grundhaltungen. Und wenn ich von etwas nicht viel halte, ist es doch nur natürlich, dies nicht zur Grundlage meiner Handlungen zu machen. Insofern hat ein Teil von Transferproblemen auch mit negativen oder zumindest skeptischen Einstellungen gegenüber Wissenschaftlichkeit zu tun. Aber es ist wichtig, diese aus meiner Sicht unreflektierte Grundhaltung nicht mit der Kritik an wissenschaftlichen Befunden zu verwechseln. Informierte Kritik ist Kern wissenschaftlichen Arbeitens, nicht aber Abwertungen, die interessengeleitet sind.

Warum sprechen die Wissenschaftler dann nicht häufiger darüber wie ihre Arbeit funktioniert? Auf der Sachebene gibt es die Kommunikation durchaus, unter anderem auf den Präventionstagen oder etwa in unseren Transferprojekten mit dem Landespräventionsrat Niedersachsen. Auf der Metaebene findet ein Austausch bislang jedoch kaum statt. Nicht nur, weil eine solche Kommunikation anstrengend ist und viel Zeit braucht, die etwa Politiker oftmals nicht haben. Sondern es setzt natürlich voraus, dass man sich überhaupt dafür interessiert. Dass Befunde oftmals sehr differenziert diskutiert werden müssen, weil die Erkenntnisse sich eben nicht in kurzen Statements zusammenfassen lassen, wollen viele nicht hören, obwohl dies ein Kernmerkmal von wissenschaftlicher Evidenz ist. Summa summarum klappt der Transfer in der Prävention gerade bei politischen Entscheidungsprozessen auch aus diesen Gründen nicht besonders gut.

Zum Beispiel?
In der Prävention lässt sich seit Jahrzenten beobachten, dass es immer erst zur Katastrophe kommen muss, bis auf politischer Seite in Prävention investiert wird. In Thüringen sind zum Beispiel erst dann Schulpsychologen verstärkt eingestellt worden, nachdem es 2002 am Erfurter Gutenberg-Gymnasium zu einem Massaker gekommen ist. Inzwischen sind diese Stellen jedoch schon wieder deutlich reduziert worden. Ähnliches kann man in der Radikalisierung feststellen. Die Probleme sind aktuell groß und werden viel diskutiert. Es werden jedoch teilweise Projekte und Programme finanziert, die politisch motiviert sind und denen eine wissenschaftliche und evidenzbasierte Fundierung gänzlich fehlt. Außerdem wird seit Jahren „Projektitis“ betrieben und keine nachhaltigen Strukturen aufgebaut. Dass dies zu strategischen Antragstellungen und wenig selbstkritischer Grundreflexion in der Praxis führt, ist nur verständlich. Und dann erlebt man wissenschaftliche Expertise oft als hinderlich.

Wie ließen sich denn wissenschaftliche Erkenntnisse besser und nachhaltiger in die Öffentlichkeit, Praxis und Politik transferieren?
Es gibt sicherlich kein Patentrezept. Außerdem muss der Transfer danach unterschieden werden, ob die Praxis, die Politik oder die Öffentlichkeit gemeint ist. Grundsätzlich kann es aus meiner Sicht nur funktionieren, wenn alle Akteure sich an der Kommunikation beteiligen. In der Praxis klappt das in einigen Beispielen schon sehr gut, wenn der Kontakt zwischen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen durch Transferstellen wie etwa den Landespräventionsräten vermittelt wird. Skeptischer bin ich hingegen, was den Transfer in die Politik und die Medien betrifft. Journalisten unterliegen einem ungeheuren Produktionsdruck. Sie brauchen einfache Botschaften, die sich in einer Minute unterbringen oder in einer Schlagzeile formulieren lassen. Und das funktioniert mit komplexen wissenschaftlichen Themen in der Regel nicht. Dafür braucht es Spezialisten, Wissenschaftsjournalisten, die kompetent und unabhängig berichten und nicht nur spektakuläre Ergebnisse aufgreifen, sondern Wissen vermitteln und einordnen. Aber um eben diesen Wissenschaftsjournalismus ist es derzeit aus meiner Sicht nicht gut bestellt. An ihre Stelle sind unzählige Talkshows getreten, in denen Wissenschaftler neben Prominenten aus Politik und Showbusiness gelegentlich als eine Stimme unter vielen auftreten. Wie eingangs schon gesagt, wissenschaftliche Expertise ist keine Meinung, die gleichgewichtig zu anderen Meinungen steht.

Und wie sieht es in der Politik aus?
Politiker*innen müssten all die wissenschaftlichen Gutachten und Empfehlungen von Expertengremien, die sie oft genug selbst in Auftrag geben und finanziell fördern, irgendwann auch umsetzen. Das passiert erstaunlich selten. Ich habe an etlichen Auftragsstudien mitgearbeitet, die in irgendeiner Schublade verschwunden sind, weil sich die politische Situation geändert hat und etwas Anderes opportun wurde. Es ist schon länger bekannt, übrigens auch international, dass politische Entscheidungsträger wissenschaftliche Erkenntnisse vor allem selektiv berücksichtigen, und zwar vorrangig solche, die ihren Interessen dienen. Das bedeutet, dass die politisch Verantwortlichen auch bereit sein müssten, sich gegen parteipolitische oder andere Interessen zu entscheiden, wenn es wissenschaftliche Gründe dafür gibt. Und es ist ihre Pflicht, sich im Dienste der Bevölkerung zu informieren, und nicht die Pflicht der Wissenschaftler*innen, ihnen mit Ergebnissen hinterher zu laufen, die sie eigentlich nicht hören wollen.

Wie könnten Wissenschaftler*innen selbst zu Verbesserungen beitragen?
In erster Linie natürlich gute Forschungsarbeit leisten. Nicht jede wissenschaftliche Arbeit ist qualitativ hochwertig. Ein wichtiger Ansatz, den ich auch in meiner eigenen Arbeit schon lange verfolge, ist die Zusammenfassung von Einzeluntersuchungen in Metastudien. Es ist bekannt, dass es in unterschiedlichen Studien zum gleichen Thema auch unterschiedliche Ergebnisse geben kann. Metastudien helfen, diese Varianz einzuordnen, was auch bei der Vermittlung in die Öffentlichkeit hilft. Außerdem erzielt man nach meinen Erfahrungen eine deutlich höhere Resonanz, wenn man den Kenntnisstand zu einer Frage systematisch zusammenträgt, als wenn man mit einer - oftmals selektiv ausgewählten - Studie daherkommt. Es findet sich immer eine andere Studie mit widersprechenden Ergebnissen. Einzelergebnisse sind von daher nur bedingt aussagekräftig und zuverlässige Handlungsempfehlungen für die Praxis und Politik können meines Erachtens nur aus einer Gesamtschau der Befunde und durch wiederholte Bestätigung von Ergebnissen abgeleitet werden.

 

Herr Beelmann, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

  

Professur für Forschungssynthese, Intervention und Evaluation der Universität Jena

Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration

 

 

Prof. Dr. Gina Wollinger

35. Zwischenruf: 31. August 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Gina Wollinger
„Fake News und Kriminalität. Dialog ist schwierig aber notwendig.“

Heute ist Montag, der 31. August 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Frau Professorin Dr. Gina Rosa Wollinger. Nach viel beachteten Forschungen zum Wohnungseinbruch am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) ist Frau Wollinger als Soziologin und Kriminologin seit 2018 Professorin an der Hochschule für Polizei und Verwaltung NRW in Köln.

Frau Wollinger, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst nach Ihrem Verständnis zu Fake News fragen, die bei Ihnen heute im Mittelpunkt stehen sollen.
Mit dem Begriff Fake News werden Nachrichten bezeichnet, die falsch oder irreführend sind und bei denen der/die Verfasser/in der Nachricht einen Mangel an Wahrhaftigkeit aufweist, d.h., er/sie hat entweder bewusst die Unwahrheit gesagt oder für sie/ihn ist es nicht relevant, ob die Nachricht wahr ist.

Das Phänomen Fake News ist nicht neu, so gibt es Beispiele von Fake News die aus der Antike stammen. Neu sind jedoch die Dimension und die Auswirkungen von Fake News, welche durch Digitalisierung, soziale Medien und „Demokratisierung medialer Nachrichtenverbreitung“ ermöglicht wurden. Fake News sind nicht gleich zu setzen mit Verschwörungsfantasien, oftmals wirken sie jedoch zusammen, indem Fake News Verschwörungsfantasien bestärken können und verschwörungstheoretische Einstellungen wiederum anfällig für das Rezipieren von Fake News machen.

Was haben nun Fake News mit Kriminalität zu tun?
In den letzten Jahren sind vor allem Fake News mit politischem Hintergrund diskutiert worden, wie beispielsweise im Kontext des Brexits und der Amtsausübung von Donald Trump. Fake News wirken sich jedoch nicht nur auf politische Diskussionen und Felder aus, vielmehr scheinen Falschmeldungen auf zweierlei Weise auch kriminologisch relevant zu sein und während der Corona-Pandemie besonders virulent.

Zum einen existieren Fake News, die nicht durch (macht-)politische Motivation entstanden sind, sondern explizit zur Kriminalitätsbegehung aufgestellt werden. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Falschmeldungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in Bezug auf Behandlungs- und Schutzmöglichkeiten (Fakeshops, falsche Atemschutzmasken und Desinfektionsmittel bis hin zu Phishingmails). Fake News sind somit zu einem modus operandi geworden.

Zum anderen haben jedoch auch politisch motivierte Fake News Auswirkungen auf Kriminalitätsentstehung. Immer wieder gab es Vorfälle, in/bei denen aufgrund von Fake News quasi Selbstjustiz geübt  und vermeintliche Täter angegriffen wurden. Zu Zeiten von Corona zeigt sich jedoch, dass Fake News mit (eher) politischem Hintergrund auch dazu führen, dass Menschen in den Anti-Corona-Maßnahmen Unterdrückung und unzulässigen Grundrechtseingriffe sehen, was wiederum u.a. dazu führt, dass Corona-Schutzverordnungen missachtet werden. Beispiele hierfür finden sich in den Demonstrationen der letzten Wochen gegen die Anti-Corona-Maßnahmen. Etwas salopp gesagt: Ordnungswidrigkeiten werden plötzlich kriminologisch relevant (und interessant). Denn in der Begehung von Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit den Corona-Schutzmaßnahmen kommt eine Gemengelage von Verschwörungsannahmen, Fake News und Angst zum Ausdruck, die auf ein Problem der Demokratie und des Verhältnisses zwischen Bürger/in und Staat hinweisen und sich in abweichenden Verhalten ausdrücken. Dass es bei diesen Demonstrationen nicht nur um eine andere Einschätzung zur Bekämpfung der Pandemie geht, wird deutlich, wenn die einzelnen Akteursgruppen betrachtet werden. Unter den Demonstrierenden befanden sich nach Medienberichterstattung besonders viele Gruppierungen, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind oder sogenannten Verschwörungstheorien anhängen, welche generell ebenso eher Bezüge zu rechten Weltbildern aufweisen, wie die sogenannten Reichsbürger oder querdenken 711.

Dieser Umstand weist noch einen weiteren Bezug aktueller Kriminalitätsphänomene auf: Die Zunahme rechtsmotivierter Straftaten. Während Kriminalität insgesamt seit einigen Jahren rückläufig ist und auch Gewalt- und Straßenkriminalität sinkt, werden polizeilich deutlich vermehrt Straftaten mit rechtsideologischen Hintergründen verzeichnet.

In der aktuellen Kriminalitätssituation drückt sich somit nicht nur eine Verschiebung von Tatgelegenheiten aus, welche im Sinne von Routine Activity Theory oder Situational Action Theory greifbar ist, sondern auch eine Gemengelage von Marginalisierungsgefühlen, Einfluss von (Rechts-)Populismus und Problemen im öffentlichen Diskurs bzw. der Wahrheitsfindung, welche u.a. durch Falschmeldungen eine gefährliche Dynamik erhalten. Die signifikante Zunahme von Selbstbewaffnung (und der Beantragung des Kleinen Waffenscheins) könnte ebenso im Kontext dieser Entwicklung verstanden werden.

Wo sehen Sie insbesondere Ansätze für Prävention im Zusammenhang von Fake News und Kriminalität?
Hinsichtlich der Prävention der skizzierten Phänomenbereiche kommen verschiedene Handlungsfelder in Betracht. Bezogen auf den erstgenannten Kontext, Fake News zur Ermöglichung von Kriminalität (Warenbetrug, Phishing etc.), zeigt sich der wohl geeignetste Ansatz von Kriminalprävention in der Aufklärung der Bevölkerung über das Tatvorgehen. Insofern ist das kriminalpräventive Handeln wie auch bei anderen Betrugsdelikten, z.B. dem sogenannten Enkeltrickbetrug, weniger auf das Einwirken auf den/die Täter/in als vielmehr auf die Sensibilisierung potentieller Opfer fokussiert.

Hinsichtlich der Kriminalität im Zusammenhang mit politisch motivierten Fake News sind präventive Ansätze sicherlich komplexer und vielschichtiger. Zum einen versuchen Medien wie beispielsweise die ARD mit sogenannten Faktenchecks Falschmeldungen zu entlarven und mit fundierten Aussagen sich der Komplexität verschiedener Themen zu nähern. Dies ist sicherlich ein wichtiger Baustein. Allerdings ist die Reichweite solcher Faktenchecks begrenzt und kann sogar genau das Gegenteil bewirken (auch „Backfire“-Phänomen genannt), indem sich Menschen, die Fake News anhängen, gerade dadurch in ihrem Weltbild bestätigt sehen, dass andere sich (vermeintlich) rechtfertigen. Der Dialog ist schwierig, dennoch notwendig, da es keine Alternativen zu geben scheint.

Für diesen Dialog bzw. die Diskussion in der Öffentlichkeit ist es dabei zum einen wichtig, dass Fake News nicht ständig wiederholt werden, auch wenn es darum geht, sie zu widerlegen. Aufgrund des sogenannten Bestätigungsfehlers (oft Gehörtes ist bekannt und was uns bekannt ist, glauben wir eher) bietet dies der Verbreitung von Fake News eine weitere Plattform. Zum anderen ist es aber auch wichtig, dass die Diskussion neben Politikern/innen und Journalisten/innen ebenso durch Fachleute aus der Kriminalprävention, sowohl aus der Praxis als auch aus der Wissenschaft, getragen wird. Es ist auch ihre Aufgabe zu vermitteln, auf welchen Erkenntnissen Einschätzungen über die Kriminalitätssituation in Deutschland basieren und wie es um diese gegenwärtig steht.

Frau Wollinger, haben Sie vielen Dank für Ihren aktuellen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN)
Hochschule für Polizei und Verwaltung NRW

Alexander Mauz

34. Zwischenruf: 31. August 2020

Erich Marks im Gespräch mit Alexander Mauz
„Zivile Friedensförderung und Gewaltprävention in Krisen- und Konfliktregionen brauchen jetzt starke Partnerschaften, Solidarität und Flexibilität“

Heute ist Montag, der 31. August 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Herrn Alexander Mauz, den Sprecher des Konsortiums Ziviler Friedensdienst (ZFD) mit Sitz in Bonn. Herr Mauz arbeitet seit mehr als 15 Jahren in den Bereichen Friedensarbeit, Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe und ist seit 2018 Vorstand für Programme und Qualifizierung beim Forum Ziviler Friedensdienst.

Herr Mauz, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit erscheinen Ihnen aktuell und generell besonders wichtig?
Die Corona-Pandemie trifft die Gesellschaften fragiler Staaten besonders hart. Die oft prekäre Gesundheitsversorgung steht vor dem Kollaps. Schwierige Lebensbedingungen und Armut begünstigen die Ausbreitung des Corona-Virus und führen zu einer drastischen Zunahme sozialer Spannungen und häuslicher Gewalt. Konflikte werden durch Versorgungsengpässe, Einkommensverluste, Unsicherheit und Ängste verschärft. Hinzu kommt, dass manch autoritäres Regime die präventiven Maßnahmen gegen das Virus missbraucht, um die Menschenrechte und die Spielräume der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken. All das führt dazu, dass die Zivilgesellschaft durch die Pandemie und ihre Auswirkungen doppelt geschwächt wird: sie kann weder ihre Dienstleistungs-, noch ihre Watch-Dog-Funktion wie gewohnt ausfüllen. Die schwerwiegenden gesundheitlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Pandemie gefährden den Weg zum Frieden in Krisen- und Konfliktregionen auch langfristig. In dieser Situation sind wir als Partner der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort gefordert. Gerade jetzt ist es wichtig, ihnen bei der Friedensarbeit weiterhin zur Seite zu stehen, um Konflikte rechtzeitig zu deeskalieren, Gewalt vorzubeugen und die Lage zu stabilisieren. Das hilft auch dabei, die langfristigen Folgen der Krise abzufedern. Vor dem Hintergrund von Lockdowns, Ausgangsbeschränkungen, Hygiene- und Abstandsregeln ist die Unterstützung natürlich besonders schwierig – aber nicht unmöglich. Die meisten Partner und ZFD-Fachkräfte haben sich technisch und inhaltlich schnell an die neuen Herausforderungen angepasst. Sie setzen verstärkt auf mobile und virtuelle Kommunikations- und Arbeitswege.

Auch im Libanon geht die Friedensarbeit weiter, vor dem Hintergrund der jüngsten Katastrophe in Beirut unter noch schwereren Bedingungen. Unsere Teams und Partner unterstützen aktuell direkt betroffene Bevölkerungsgruppen mit psychosozialen Maßnahmen und weiteren Angeboten. Unter anderem versuchen wir, die große politische Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit der Regierung in konstruktive Prozesse umzuwandeln. Dies geschieht durch die Organisation von Austauschen und Diskussionsforen in den Straßen Beiruts.

Unser reguläres Programm geht aber ebenfalls weiter. Das Redaktionsteam des Medienprojekts Campji ist eigentlich auf den Straßen des Geflüchtetencamps Schatila in Beirut unterwegs, um Stimmungen einzufangen und direkt mit den Menschen zu sprechen. Die wegen COVID-19 auferlegten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erforderten ein Umdenken. Eine vom ZFD durchgeführte Schulung zur mobilen Berichterstattung gab hierfür wichtige Impulse. Das Team von Campji produzierte von zu Hause aus humvorvolle Clips zu den Hygieneregeln und traf damit den Nerv der Zielgruppe im Camp. Die Videos werden gelikt, geteilt, kommentiert – und bringen damit auch ihre präventive Botschaft unter die Leute: Den adäquaten Umgang mit der viralen Gefahr, aber auch mit den Auswirkungen des Lockdowns auf das Leben der Menschen in Schatila.

In Mexiko erschweren die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie die lebensgefährliche Arbeit von Menschenrechtsverteidigerinnen und – verteidigern (MRV) zusätzlich. Ihre Arbeit ist weniger sichtbar oder gar unmöglich, teilweise werden die Präventionsmaßnahmen gegen das Virus auch als Vorwand benutzt, um die Menschenrechtsarbeit mit Gewalt zu unterbinden. Die ZFD-Partnerorganisation ALUNA unterstützt MRV dabei, ihr Engagement trotz der Einschränkungen und der ständigen Bedrohung aufrechtzuerhalten. Die Organisation bietet in der Krise verstärkt psychosoziale Betreuung an, damit MRV mit der Belastung besser umgehen und sich wirkungsvoller schützen können. ALUNA macht auch öffentlichkeitswirksam auf die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie aufmerksam und fördert mit verlässlichen Informationen eine kritische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Pandemie.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Wir möchten verdeutlichen, dass die lokale Friedensarbeit und die Arbeit des Zivilen Friedensdienstes auch unter den verschärften Bedingungen der Corona-Pandemie weitergeht - und weitergehen muss. ZFD-Fachkräfte und lokale Teams entschärfen vielerorts Konflikte und wirken präventiv, sie stehen verletzlichen Gruppen bei und behalten die Menschenrechte im Blick. Vielerorts füllen sie sogar staatliche Versorgungslücken, etwa bei gesundheitlicher Aufklärung und psychosozialer Beratung. Daher ist es auch wichtig, dass sich all die internationalen Bemühungen nicht nur auf den Wirtschafts- und Gesundheitssektor konzentrieren. Sie sollten in gleicher Weise die zivile Friedensarbeit und Gewaltprävention stärken, damit die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie abgefedert und Gewalt vorgebeugt werden kann.

Zivilgesellschaftliche Organisationen tragen durch ihre friedensfördernde Arbeit erheblich dazu bei, die Folgen der Corona-Pandemie zu mildern. Sie brauchen jetzt Solidarität und starke internationale Partnerschaften, damit sie ihre Friedensarbeit fortsetzen können. Es braucht zum Beispiel eine Garantie, dass die langfristig angelegte Arbeit auch in Zukunft Bestand haben wird und sich die Partner vor Ort auf zuverlässige und flexible Projektförderungen stützen können. Gerade jetzt ist auch mehr Flexibilität bei der Mittelverwendung in der Projektförderung nötig, damit die lokalen Partnerorganisationen in Notlagen wie dieser dringliche Hilfsmaßnahmen schnell und unkompliziert finanzieren können.

Es sollte der gesamte Instrumentenkasten der Entwicklungs- und  Friedenspolitik genutzt und die Maßnahmen miteinander verbunden werden, z.B. Verknüpfung von Soforthilfemaßnahmen mit krisenpräventiven Maßnahmen (Ernährungssicherung), Maßnahmen zur Vermeidung weiterer Epidemie-Ausbrüche (Sensibilisierungsmaßnahmen, nachhaltige Gesundheitsinfrastruktur) und Maßnahmen zur Adressierung sozialer und politischer Konflikte (Stärkung staatlicher Institutionen, zivile Konfliktbearbeitung, soziale Kohäsion) im Sinne des Humanitarian-Development-Peace-Nexus. Zudem, und das ist vielleicht eine Chance der Krise, könnte auch jetzt die Digitalisierung der Friedensarbeit vorangetrieben werden, z.B. indem die technische Ausstattung der lokalen Teams in den Partnerorganisationen und Weiterbildungen der zivilgesellschaftlichen Akteure vor Ort im Umgang mit virtuellen Arbeitstools gefördert werden.

Darf ich Sie abschließend noch um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen bitten:
In vielen Krisen- und Konfliktregionen verschärft die Corona-Pandemie bestehende Konflikte und erhöht die Gefahr, dass Gewalt ausbricht. Gleichzeitig werden vermehrt Menschenrechte und Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft eingeschränkt. Daher müssen die Bemühungen um friedliche Konfliktbearbeitung unbedingt aufrechterhalten werden. Gerade jetzt ist die zivile Konfliktbearbeitung zentral. Wir müssen daher mit allen Kräften lokale zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger unterstützen und auch die Digitalisierung der Friedensarbeit vorantreiben. Die Corona-Pandemie wird die Friedensarbeit langfristig vor Herausforderungen stellen. Programme für Friedensförderung und Gewaltprävention brauchen wachsende Budgets, Beachtung, politisches Interesse und politische Unterstützung um aktuelle und künftige Bedarfe der lokalen Partner in Krisen- und Konfliktregionen bedienen zu können.

Herr Mauz, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Ziviler Friedensdienst
Portal zur Friedensarbeit in Corona-Zeiten

Gunhild Schwitalla-Ruf

33. Zwischenruf: 28. August 2020

Erich Marks im Gespräch mit Gunhild Schwitalla-Ruf
„Wir müssen die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Gewalt- und Konfliktursachen besser verstehen und unser Handeln in der Präventionsarbeit darauf ausrichten.“

Heute ist Freitag, der 28. August 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Frau Gunhild Schwitalla-Ruf. Frau Schwitalla-Ruf ist Projektleiterin bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) und aktuell für verschiedene Projekte auf den Philippinen, genauer gesagt auf der zweitgrößten philippinischen Insel Mindanao im Pazifik, im Themenfeld Frieden und Konflikttransformation verantwortlich. Ich erreiche meine heutige Gesprächspartnerin über 10.000 km von Europa  entfernt in der philippinischen Landeshauptstadt Manila.

Frau Schwitalla-Ruf, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf. Darf ich Sie bitten zunächst in wenigen Worten die GIZ und ihre Arbeit zu skizzieren.

Das tue ich gern. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH ist ein weltweit tätiger Dienstleister der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung und internationale Bildungsarbeit mit 22.199 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die GIZ hat mehr als 50 Jahre Erfahrung in unterschiedlichsten Feldern, von der Wirtschafts- und Beschäftigungsförderung über Energie und Umweltthemen bis hin zur Förderung von Frieden und Sicherheit. Das Geschäftsvolumen liegt bei rund 3,1 Milliarden Euro. Als gemeinnütziges Bundesunternehmen unterstützt die GIZ die Bundesregierung, insbesondere das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, sowie viele öffentliche und private Auftraggeber in rund 120 Ländern dabei, ihre Ziele in der internationalen Zusammenarbeit zu erreichen. Dafür entwickelt die GIZ mit ihren Partnern wirksame Lösungen, die Menschen Perspektiven bieten und deren Lebensbedingungen dauerhaft verbessern.

Und auf den Philippinen ist die GIZ ja bereits seit vielen Jahrzehnten engagiert.

Im Auftrag der Bundesregierung führt die GIZ seit den 1970er-Jahren Projekte zur Förderung der wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Entwicklung auf den Philippinen durch. Hauptauftraggeber der GIZ sind das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU). Weitere Unterstützung kommt u.a. von internationalen Auftraggebern wie der Europäischen Union und der Asiatischen Entwicklungsbank. Entwicklungspartnerschaften mit dem Privatsektor aus Deutschland und anderen europäischen Ländern werden ebenfalls umgesetzt. Die GIZ konzentriert sich auf den Philippinen auf die Themen Frieden und Sicherheit, Klimawandel und Biodiversität sowie wirtschaftliche und menschliche Entwicklung (Landwirtschaft, städtische Infrastruktur, Beschäftigung, Mikroversicherung und Schulkindergesundheit). Die Projekte im Themenfeld Frieden und Sicherheit setzen wir, wie bereits von Ihnen erwaehnt, auf der Insel Mindanao um. Kurz zum Kontext: Die Inselgruppe Mindanao im Süden der Philippinen gilt als strukturschwächste und am wenigsten entwickelte Region des Landes. Die ungleiche Verteilung von Land und Ressourcen sowie die Benachteiligung und Marginalisierung großer Teile der Bevölkerung tragen zu diversen Gewaltkonflikten bei. Seit Jahrzehnten bestehen bewaffnete Konflikte zwischen dem philippinischen Staat und verschiedenen muslimischen und kommunistischen Rebellen- und Separatistengruppen. Zudem gibt es eine Vielzahl von Konflikten zwischen ethnischen Gruppen, Clans und Familien mit teils erheblichem Gewaltpotenzial. Mit unseren Projekten unterstützen wir unsere philippinischen Partner (staatliche, zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Akteure) bei der Bearbeitung verschiedener Ursachen und Auswirkungen von Konflikten und Gewalt. Hierzu zählen die Stärkung Jugendlicher und junger Erwachsener in ihrer Rolle als Friedensakteure und Gestalter*innen guter Regierungsfuehrung, die Förderung verantwortungsvoller Landpolitik und der Umgang mit Landrechten sowie die Verbesserung der Kapazitäten auf Gemeindeebene, um der gewaltsamen Vertreibung in Mindanao zu begegnen. Ausserdem beraten wir über Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes (ZFD) Kooperationspartner auf Mindanao bei der Planung und Durchführung friedensfördernder Projekte. Zum Beispiel durch mindanao-weite Konsultationen und Dialogplattformen, um die friedenspolitische Positionierung der indigenen Gemeinschaften im öffentlichen Diskurs zu Friedensprozessen zu festigen. In Zusammenarbeit mit privatwirtschaftlichen Akteuren stärken wir zudem nachhaltigen, agrarwirtschaftlichen Anbau von Kaffee, Kakao, Kokos und Abacá (auch bekannt als Manila-Hanf) sowie dadurch Einkommen und Produktivität von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen.

In unserem Vorgespräch haben Sie drei besondere Herausforderungen und somit Anliegen in Ihrer aktuellen Arbeit beschrieben; darf ich Sie bitten, diese nochmals  aufzugreifen.

(1) Trotz der Notwendigkeit kurzfristiger Maβnahmen zur Eindämmung der Verbreitung von SARS-CoV-2: die eigentlichen Konflikt- und Gewaltursachen dürfen nicht aus dem Blick geraten.: Bei aller Bedeutsamkeit und Notwendigkeit von kurzfristigen Maβnahmen zur Eindämmung der unmittelbar direkten Auswirkungen der COVID-19 Pandemie, die zu recht zurzeit und gerade auch in vielen unserer Partnerländer im Fokus stehen, dürfen wir mittel- und langfristige Arbeit an Konflikt- und Gewaltursachen nicht aus dem Blick verlieren. Was meine ich damit? Den Fokus auch jetzt schon oder gerade jetzt auch auf mittel- und langfristige soziale und wirtschaftliche Auswirkungen zu legen. In Mindanao betrifft dies unter anderem die Sicherung der Lebensgrundlagen, insbesondere von Kleinbauern/Kleinbäuerinnen und indigenen Gemeinschaften (die Philippinen weisen einen der höchsten Anteile an indigener Bevölkerung in Südostasien auf. Auf den Philippinen gibt es mehr als 150 verschiedene Volksgruppen oder indigene kulturelle Gemeinschaften (indigenous cultural communities). Durch die massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit aufgrund des strikten Lockdown über mehrere Monate kam es beispielsweise zu unterbrochenen Wertschöpfungsketten, einem Rückgang an Nachfrage auf lokalen Märkten – und somit natürlich Einkommensverlusten. In diesem Sinne wirkt die COVID19-Pandemie als Konfliktverschärfer - insbesondere für die zuvor erwähnten Gruppen (Kleinbauern und indigene Gemeinschaften) ist dies Existenz-bedrohend. Und: Geringes Einkommen und fehlende Beschäftigung zählen mit zu den Haupt-Konfliktursachen in Mindanao. Zudem macht es auch anfälliger für Propaganda und Rekrutierungsversuche illegal bewaffneter Akteure in Mindanao und in anderen Landesteilen der Philippinen. Wie unterstützen wir hier? Wir versuchen gemeinsam mit unseren Kooperationspartnern (dazu zählen neben staatlichen auch privatwirtschaftliche Akteure und zivilgesellschaftliche Organisationen) unter anderem kurzfristige Maßnahmen zur Linderung der unmittelbaren Auswirkungen von COVID-19 zu unterstützen. Ein Beispiel dafür stellen Schulungen und Aufbau von „household und communal gardening“ dar, damit Familien sich selbst und weitere Familien in einzelnen Gemeinden / Stadtvierteln versorgen können und zumindest kurzfristig unabhängig vom Markt sind. Ein weiteres Beispiel stellt eine Initiative zur Schaffung schnellen Einkommens über so genanntes „Cash-for-Work“ dar. Unterstützt werden dadurch 175 Kleinbauern und ihre Familien, die eigentlich im Bereich von nachhaltigem Kokosnussanbau tätig sind. Über die Cash-for-work-Initiative werden diese Bauern nun z.B. beschäftigt, indem sie beim Aufbau von Bewässerungssystemen für Kokosnuss -Anbaubetriebe aushelfen.

Zugleich arbeiten wir mit Partnern aber auch schon jetzt an mittel- und langfristigen Mechanismen, um sowohl die wirtschaftlichen Folgen der COVID19 Pandemie als auch Auswirkungen möglicher anderer Krisen zukünftig besser abfedern zu können. Hier steht die Frage im Vordergrund: wie können Wertschöpfungsketten regional oder lokal gesichert werden, auch wenn sie auf überregionaler oder nationaler Ebene unterbrochen sind, um Einkommen zu sichern und Ernteausfällen entgegen zu wirken? Hier erstellen wir gerade eine Studie zum Aufbau regionaler und lokaler food hubs, also Nahrungsmittelzentren, über welche dann der Zugang zu Nahrungsmitteln auf regionaler und lokaler Ebene sichergestellt werden soll.

Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID19-Pandemie, die Konflikt- und Gewaltursachen anheizen, legen wir auch einen Blick auf Konfliktursachen im Bereich der sozialen und politischen Teilhabe, beispielsweise von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Gefühl der Marginalisierung ist insbesondere unter muslimischen und indigenen Jugendlichen, ohnehin bereits groß. Es gibt nur unzureichende Möglichkeiten, wie diese sich mit eigenen Ideen in die Politikgestaltung und Umsetzung auf Ebene ihrer Gemeinden einbringen können. Studien haben gezeigt, dass insbesondere das Gefühl der sozialen und politischen Marginalisierung eine Ursache für Radikalisierung darstellt. Durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Corona-Zeiten wird dieses Gefühl zumeist ungewollt noch weiter befördert. Auch hier lässt sich seit Beginn der Corona-Krise wieder ein Mehr an Propaganda- und Rekrutierungsversuchen von illegal bewaffneten Akteuren beobachten. Wir haben uns gefragt: Wie können sich junge Menschen jetzt auch kurzfristig sinnvoll in die Aufklärungsarbeit ihrer Gemeinden rund um Covid19 einbringen? Wie können sie ihre Rolle als VermittlerInnen und FriedensstifterInnen weiterhin ausfüllen, trotz der Einschränkungen? Wir unterstützen junge Menschen in Mindanao dabei, sich mit ihren Ideen, aber auch Bedürfnissen in die aktuelle Arbeit ihrer Gemeinden rund um COVID19 aktiv einzubringen, z.B. über die Nutzung sozialer Medien, insbesondere Facebook. Hier geht es zum einen um ganz praktische Sachen (Was sind die gängigen Hygieneregeln, um mich vor der Ansteckung mit dem Virus zu schützen? Wie nähe ich meinen Mund-Nasenschutz selbst etc.?), aber auch um Gewaltprävention und dem Entgegenwirken von Falschinformationen. Ein Beispiel: Diskriminierung und Gewalt gegen MitarbeiterInnen des Gesundheitssektors sowie gegen aus dem Ausland zurückkehrende so genannte OFWs – Overseas Filipino Workers – also im Ausland berufstätige Filipinos/as, haben in den vergangenen Monaten zugenommen, da vielerorts die Menschen der Meinung sind, diese seien für die Verbreitung des Virus verantwortlich.  Junge Menschen werden nun dabei unterstützt, diesen Tendenzen entgegen zu wirken, indem sie Gleichaltrigen faktenbasierte Informationen zur Verfügung stellen und diesem negativen Bild entgegen wirken. Kurzum: So gehen sie nicht nur einer sinnvollen Beschäftigung nach, sondern sie verschaffen sich über ihr Engagement entsprechendes Gehör und können mitgestalten – was sich positiv auf das zuvor erwähnte Gefühl der Marginalisierung auswirkt. Aber auch dahinter steckt ein Gedanke der Langfristigkeit: sie werden so grundsätzlich in ihrem Gefühl bestärkt, sich auch sozial und politisch beteiligen zu können – und das ist unser eigentliches Ziel.

In ihrem zweiten Punkt geht es um die Frage, wie sehr die Corona-Pandemie ihre konkrete Arbeit vor Ort beeinflusst?

(2) Niemanden zurücklassen – gerade mit Blick auf faktenbasierte, und gewaltfreie Kommunikation in Corona-Zeiten: Viele Menschen nutzen und informieren sich in den Philippinen über das Internet und soziale Medien. Oftmals werden die Philippinen als “weltweite Hauptstadt der sozialen Medien“ betitelt. Somit passiert es schnell – und davon möchte ich mich selbst auch gar nicht ausnehmen – dass wir mit Blick auf die Verbreitung und den Zugang zu Informationen einen zu starken Fokus auf das Internet und soziale Medien legen. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Insbesondere vulnerable Gruppen wie Menschen in ländlichen Regionen und indigene Gemeinschaften sehen sich bei einer solchen Fokussierung auf das Internet in ihrem Zugang zu Informationen marginalisiert. In abgelegenen Gebieten gibt es nur sehr unzureichende Anbindung ans Internet, so dass diese Menschen über soziale Medien kaum erreicht werden können. Wozu führt dies? Die Menschen kennen aktuelle Empfehlungen und Hygieneregeln nicht und können sich und andere nicht ausreichend schützen. Oder es werden Falschinformationen, beispielsweise in Zusammenhang mit der Verteilung von Hilfsgütern oder der Ansteckung mit dem Virus verbreitet – dies wirkt sich negativ auf das ohnehin zum Teil fragile Vertrauensverhältnis zwischen der Bevölkerung und staatlichen Strukturen aus. Hier kommen dann die eher klassischen Kommunikationskanäle ins Spiel, sprich Informationen über Radio oder SMS, um der Verbreitung von Falschinformationen entgegen zu steuern. In Mindanao haben wir in Zusammenarbeit mit der Nationalen Kommission für indigene kulturelle Gemeinschaften zunächst auf Provinzebene eine 7-woechige Informationskampagne rund um COVID19 unterstützt. Hier ging es um Informationen zu Hygieneregeln, aktuelle Informationen zu Fallzahlen mit Blick auf COVID19, aktuelle Informationen zu Quarantäne-Regelungen und faktenbasierte Informationen, natürlich in der jeweiligen Sprache – gerade Letzteres ist mit Blick auf den zuvor bereits erwähnten Aspekt der Marginalisierung als Konflikt- und Gewaltfaktor sehr wichtig, denn je ländlicher es wird, desto weniger spricht die dort ansässige Bevölkerung die weit verbreiteten Landessprachen Tagalog und Visaya, geschweige denn Englisch – hier ist es wichtig, die Informationen im jeweiligen, lokalen „Dialekt“ zur Verfügung zu stellen.  Ziel ist es nun, diese konkrete Informationsverbreitung weiter auszubauen und noch mehr Menschen in der Region den Zugang zu Informationen rund um COVID19 zu ermöglichen. Wir stehen hierzu neben staatlichen Partnern auch mit nationalen Kommunikationsunternehmen bereits in Austausch, um dies zu planen.

In ihrem dritten Punkt haben Sie die Frage aufgeworfen, ob die Wirksamkeit Ihrer Präventionsarbeit vor Ort durch Covid-19 gefährdet ist?

(3) Bremsen Schutzmaβnahmen gegen COVID-19 die Wirksamkeit friedensstiftender und vertrauensbildender Ansätze in der Friedens- und Präventionsarbeit?: Um Vertrauen zu bilden, braucht es Plattformen für Dialog und Austausch. Moderierte und kultursensibel gestaltetet Dialogprozesse haben sich auch in der internationalen Zusammenarbeit als vertrauensbildende Maßnahme bewährt. Als GIZ haben wir in ganz unterschiedlichen Ländern wie Mali, Kolumbien und eben auch den Philippinen sehr gute Erfahrungen mit der Anwendung von kontext- und kultursensiblen Dialogformaten gemacht. Beispielsweise im Kontext von gewaltsamer Vertreibung und zwischen Aufnahmegemeinden, intern Vertriebenen und staatlichen Akteuren. Hier schulen wir die Teilnehmenden zunächst in den Regeln gewaltfreier Kommunikation (Senden von „Ich“-Botschaften, Verknüpfung von Gefühlen und Bedürfnissen, aktives Zuhören) – Kommunikationsregeln, die auf den ersten Blick sehr simple erscheinen, aber wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, auch im Alltag nicht immer einfach und jederzeit anzuwenden. Des Weiteren bereiten wir Teilnehmende zuerst separat vor, damit sie sich ausreichend Gedanken zu gruppenspezifischen Bedürfnissen machen können, bevor sie diese mit anderen, bspw. VertreterInnen staatlicher Institutionen teilen. Kurzum, wir folgen hier einer bestimmten Methodik. Diese Dialoge schaffen eine vertrauensbildende Basis und ermöglichen den Abbau von Stereotypen und die Arbeit an etwas Gemeinsamem, über verschieden Gruppen – sei es religiös oder zwischen Staat und Zivilgesellschaft - hinweg. Sie sind wichtig, um Konflikte konstruktiv zu bearbeiten oder überhaupt erstmals besprechbar zu machen. Nun lebt Dialog eigentlich von Nähe, einem „sich gegenüber -sitzen“. Wie bekommen wir das nun hin über digitale Plattformen? Was muss dabei beachtet werden? Hier sind wird gerade dabei, erste Erprobungserfahrungen über verschieden Projekte in Mindanao zu machen, bspw. mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie VertreterInnen staatlicher Institutionen. Oder auch rund um Landrechtsfragen. Hier loten wir aus, wo Möglichkeiten, aber auch Grenzen liegen, das, was vorher Angesicht-zu-Angesicht stattgefunden hat nun aufgrund der Corona-Pandemie in virtuelle Räume zu verlegen. Eine Herausforderung habe ich bereits zuvor benannt: die nicht überall gut funktionierende Internetverbindung. Erste Erfahrungswerte zu Grenzen und Möglichkeiten arbeiten wir gerade auf und hoffen, diese bald teilen können.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.
Weiter systemisch denken und handeln – gerade in der Gewalt- und Präventionsarbeit. Ursachen für Gewalt und Konflikte verschwinden ja nicht, nur weil wir mit den ganz unmittelbaren Auswirkungen der Corona-Pandemie beschäftigt sind. Ganz im Gegenteil – Die Auswirkungen der Pandemie verschärfen Konflikt- und Gewaltursachen wie soziale oder wirtschaftliche Marginalisierung oder sie befördern neue Konfliktlinien – wie Diskriminierung und Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen. Es ist also ein zusätzlicher Treiber im Konfliktkontext, in welchem wir uns bewegen. Das möchten wir auch im Konfliktkontext Mindanao nicht nur besser verstehen, sondern das müssen wir besser verstehen, um erfolgreiche Präventionsarbeit zu leisten. Hierzu stecken wir mit Blick auf Mindanao und unseren Umsetzungspartnern zurzeit in einem Prozess, um dies entsprechend gemeinsam zu analysieren und zu reflektieren und so eine genauere Grundlage für weitere, auf mittel- und langfristige Effekte angelegte Interventionen im Rahmen unserer Projektarbeit vor Ort zu schaffen. Kurzfristige und langfristige Lösungsansätze für die Auswirkungen der Corona-Pandemie im Bereich der Gewalt- und Präventionsarbeit vereinen. Das sollte unser Ziel sein.

Frau Schwitalla-Ruf, ich danke Ihnen für diesen Zwischenruf, wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg bei der Realisierung ihrer zahlreichen Projekte, und, bleiben Sie gesund.

https://www.giz.de/de/html/index.html
https://www.giz.de/de/weltweit/376.html

Prof. Dr. Thomas Bliesener

32. Zwischenruf: 19. August 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Bliesener
„Präventionsakteure müssen wieder sichtbar werden“

Heute ist Mittwoch, der 19. August 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Psychologen Prof. Dr. Thomas Bliesener. Herr Bliesener ist Professor für interdisziplinäre kriminologische Forschung an der Universität Göttingen und Direktor des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KFN) sowie  im Ehrenamt amtierender Präsident der Kriminologischen Gesellschaft, der wissenschaftlichen Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminologen.

Herr Bliesener, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell und generell besonders wichtig erscheinen.
Als Psychologen und Kriminologen treibt mich vor allem die Frage um, wie wir als Gesellschaft verhindern können, dass sich bei Jugendlichen und manchmal sogar schon bei Kindern Prozesse und Lebensumstände entwickeln und verfestigen, die ein Abgleiten in eine dauerhafte Kriminalität begünstigen. Wir wissen, dass ein gewisses Maß an grenzverletzendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen typisch ist. Das muss wohl auch so sein, damit die Grenzen für sich und andere erkannt werden. In den allermeisten Fällen wächst sich dieses Experimentierverhalten aus. Für einige junge Menschen ist der Weg zurück in die Normbefolgung aber erschwert. Häufig gilt dies, weil eigene Schwächen und Problemlagen nicht durch das Umfeld (Familie, Schule etc.) kompensiert werden können oder deutliche Anreize für Normbrüche (z.B. durch die Freundesgruppe) geboten werden.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufs?

Präventionsakteure müssen wieder sichtbar werden

Was meine ich damit? Wir erleben aktuell an den Schulen die Rückkehr in den Regelbetrieb. Die Schulen sind derzeit erheblich mit den organisatorischen Problemen der Pandemiebekämpfung beschäftigt. Auch der Aufbau von online-Lehrangeboten ist noch längst nicht abgeschlossen und kostet Ressourcen. Traditionell ist die Schule aber nicht nur der Ort der Wissensvermittlung sondern auch der Erziehung im Sinne einer Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung. Im Zusammenhang damit haben die Schulen bereits früh auch Aufgaben übernommen, Kinder und Jugendliche zu stärken und soziale Kompetenzen zu vermitteln. Daraus ist eine breite Palette präventiver schulischer Angebote hervorgegangen. Diese Angebote reichen von der Förderung des Gesundheitsverhaltens über den Sexualkundeunterricht (mit Aufklärung über die Vermeidung sexuell übertragener Krankheiten) bis zur Förderung sozialer Kompetenzen. Gerade letztere Angebote haben sich auch als wirksam in der Prävention sozialschädlichen und strafbaren Verhaltens erwiesen.

Diese Angebote wurden mit der Corona bedingten Aussetzung des Präsenzunterrichts an den Schulen unterbrochen. Anders als für den klassischen Unterricht steht eine Wiederaufnahme dieser Angebote jedoch nahezu völlig aus. Die Schulen haben im Moment schlicht andere Probleme.

Andere Gruppen von Akteuren in der Kriminalprävention sind die Polizeien, die Kommunen und die freien Träger. Auch hier sind in der Vergangenheit zahlreiche Angebote für Kinder und Jugendliche entwickelt worden, um frühem delinquenten Verhalten zu begegnen und Stütz- und Hilfsangebote für die Kinder, Jugendliche und ihre Familien zu machen. Auch diese Angebote sind vielfach zugunsten coronabedingter Mehraufgaben oder auch wegen der Kontakt- und Umgangsbeschränkungen ausgesetzt worden. 

Da ein Ende der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie derzeit nicht absehbar ist, erscheint es mir dringend notwendig, neue Konzepte für diese Präventionsangebote zu entwickeln, die auch unter den derzeitigen und eventuell zukünftigen Einschränkungen des sozialen Lebens von Kindern und Jugendlichen ein erfolgversprechendes Arbeiten ermöglichen. Dies erscheint mir umso dringlicher, als neueste Studien zu den Lebensumständen von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass deren Kontakt zu Gleichaltrigen durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erheblich reduziert wurde. Für die gesunde und kompetente Sozialentwicklung ist dieser Kontakt jedoch ganz entscheidend.      

Wenn uns dieses erneute Sichtbarmachen der Präventionsakteure in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nicht gelingt, befürchte ich, dass wir Kohorten von Kindern und Jugendlichen großziehen, denen notwendige Unterstützungsangebote versagt geblieben worden sind.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Bedingt durch die aktuelle Lage, müssen ich auch kriminalpräventive Angebote neu gedacht werden. Wir brauchen neue Konzepte, die auch unter Bedingungen der aktuellen Kontakt- und Umgangsbeschränkungen funktionieren und Wirkungen entfalten und für die Zielgruppe attraktiv sind.

Herr Bliesener, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

 

 

Marc von Krosigk

31. Zwischenruf: 14. Juli 2020

Erich Marks im Gespräch mit Marc von Krosigk
„Der Auf- und Ausbau kommunaler Präventionsnetzwerke ist von großer Bedeutung.“

Heute ist Dienstag, der 14. Juli 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Herrn  Marc von Krosigk. Als Geschäftsführer der Auridis Stiftung initiiert und fördert Herr von Krosigk insbesondere die Unterstützung sozial benachteiligter Kinder. Der Schwerpunkt dieser Stiftungsförderungen liegt auf der frühen Kindheit, da die ersten Lebensjahre entscheidend für die geistige, körperliche und soziale Entwicklung von Kindern sind.

Herr von Krosigk, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit Ihnen aktuell und generell besonders wichtig erscheinen.

Wir sehen es als eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe an, sozial benachteiligte Kinder gezielt zu fördern. In Deutschland wächst nach wie vor ein große Anzahl Kinder unter ungünstigen Bedingungen auf. Ihre individuelle Entwicklung wird durch unterschiedliche Risikofaktoren im familiären und sozialen Umfeld (z.B. Armut, Vernachlässigung, Sucht, mangelnde Erziehungskompetenz) gefährdet. Eine möglichst frühe Verringerung von Risikofaktoren und die gleichzeitige Förderung von Schutzfaktoren (z.B. Zusammenhalt und Anerkennung in der Familie, soziale Kompetenzen, Normen und Wertvorstellungen) erhöhen die Wahrscheinlichkeit eines Aufwachsens von Kindern im Wohlergehen.

Insofern wäre es im Sinne einer effektiven Prävention wünschenswert, dass Eltern und Kinder möglichst umfassend an Unterstützungsangeboten teilnehmen, die Schutzfaktoren fördern und Risikofaktoren verringern. Allerdings ist zu beobachten, dass gerade benachteiligte Familien häufig von kommunalen Unterstützungsangeboten nicht erreicht werden. Dieses Phänomen wird in der sozialen Arbeit als Präventionsdilemma bezeichnet.

Worin sehen Sie die wesentlichen Ursachen für diese Situation?
Die Ursachen hierfür liegen u.a. auf der strukturellen Ebene des bestehenden kommunalen Unterstützungssystems, z.B. in einer nicht bedarfsgerechten Gestaltung von Angeboten sowie fehlenden, unwirksamen oder räumlich und zeitlich nicht verfügbaren Angeboten.

Eine Antwort hierauf kann die Verbesserung von Kooperations- und Vernetzungsstrukturen in Kommunen sein. Die Vielfalt unterschiedlicher Unterstützungsangebote für Familien geht mit einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure einher (z.B. öffentliche Institutionen, Organisationen der freien Wohlfahrtspflege, Sozialunternehmen in privater Trägerschaft). Dies kann dazu führen, dass den Familien keine sinnvollen Empfehlungen zu anderen Angeboten gemacht werden oder Familien mit dem eigenverantwortlichen Übergang zwischen unterschiedlichen Angeboten überfordert sind. Eine Verbesserung der Kooperationsstrukturen zwischen diesen Akteuren kann diesem Problem entgegen wirken.

Ein weiterer Baustein kann die Entwicklung von Lotsenmodellen sein, durch die Familien in passende Unterstützungsangebote vermittelt werden.

Eine effektive Förderung benachteiligter Kinder erfordert zudem wirksame Planungs- und Steuerungsprozesse in Kommunen. Diese wiederum setzen ausreichende Informationen, Kapazitäten und Kompetenzen voraus, die aus vielfältigen und von Kommune zu Kommune unterschiedlichen Gründen nicht überall gegeben sind. Sowohl die zu lösenden sozialen Probleme als auch die zu ihrer Bewältigung erforderlichen Prozesse sind komplex und gute Planungsbedingungen, z.B. detaillierte Informationen hinsichtlich der vorhandenen Unterstützungsangebote, nur selten vorhanden.

Bei diesen erheblichen Herausforderungen benötigen die Kommunen Unterstützung, die seitens Bund und Ländern, aber auch durch Stiftungen erfolgen kann. Die Auridis Stiftung bietet Kommunen und Trägern Unterstützung in den genannten Feldern an, z.B. im Zusammenhang mit dem Auf- oder Ausbau kommunaler Präventionsnetzwerke. Mit Kommune 360° hat die Auridis Stiftung gemeinsam mit der gemeinnützigen Beratungsinstitution Phineo und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung eine Initiative gegründet, die ein bundesweites Netzwerk von Akteuren aus kommunaler Verwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft knüpfen möchte. Das Ziel ist eine effektivere Unterstützung benachteiligter Familien insbesondere durch Umsetzung integrierter Planungs- und Koordinationsprozesse in Kommunen. 

Darf ich Sie abschließend noch um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen bitten:
Eine große Anzahl Kinder wächst in Deutschland unter stark benachteiligenden Bedingungen auf. Die Benachteiligungsfaktoren sind vielfältig und die zur Lösung der sozialen Probleme erforderlichen Prozesse komplex. Für eine effektive Unterstützung dieser Kinder und ihrer Eltern sind daher erhebliche Anstrengungen der Kommunen erforderlich. Hierbei benötigen die Kommunen zusätzliche Unterstützung, die in erster Linie von Bund und Ländern, aber auch von Stiftungen erbracht werden kann. Dies kann z.B. durch direkte Beratung von Kommunen, durch Angebote der Weiterbildung für kommunale Akteure und durch Förderung der Netzwerkbildung und des Austauschs zwischen Kommunen geschehen. 

Herr von Krosigk, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Auridis Stiftung
Kommune 360°

Günther Ebenschweiger

30. Zwischenruf: 08. Juli 2020

Erich Marks im Gespräch mit Günther Ebenschweiger
„Prävention bedeutet Respekt!“

Heute ist Mittwoch, der 8. Juli 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Präventionsexperten Günther Ebenschweiger aus Graz. Herr Ebenschweiger ist unter anderem Initiator und Geschäftsführer des Österreichischen Präventionskongresses sowie Präsident des Österreichischen Zentrums für Kriminalprävention.

Herr Ebenschweiger, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit Ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen. Was ist der Hintergrund Ihrer Aussage „Prävention bedeutet Respekt!“ für die Realisierung Ihres diesjährigen Jahreskongresses?

Der Österreichische Präventionskongress 2020 – der heuer erstmals als viertägiger Online-Kongress von 16. bis 19.11. angeboten wird – steht unter dem Motto „Respekt“.

In der Vorbereitung auf dieses Thema ist mir bewusst geworden, wie wichtig Respekt einerseits ist, wie gewünscht Respekt von der Gesellschaft wird und das (Kriminal-)Prävention durchaus mit „ist ein respektvolles Angebot zur Veränderung“ übersetzt werden kann.

Was ist Ihr zentrales Anliegen für den heutigen Zwischenruf?
Aus meiner mittlerweile über 35jährigen Auseinandersetzung mit (Kriminal-)Prävention, im besonderen Gewaltprävention, kann ich ableiten, dass die Zielgruppen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene – diesen präventiven Angeboten sehr wertschätzend und respektvoll begegnen und sich über kognitive und emotionale Unterstützung freuen.

Gleichzeitig erlebe ich auch, dass politische EntscheidungsträgerInnen in der medialen Öffentlichkeit – statt einer lösungsorientierten Prävention – eher einer Interventionsmaßnahme bzw. eine Verschärfung der Strafen den Vorzug geben und EntscheidungsträgerInnen vor Ort – beispielsweise SchulleiterInnen – oft aus einer Angst heraus, ein präventiver Ansatz könnte Defizite aufdecken, einen solchen ablehnen.

Aus diesen Parametern haben sich die – und das möchte ich vorausschicken, wichtigen und unverzichtbaren – Interventionsansätze und das Strafrecht als rasche und verständliche „Lösungsmittel“ etabliert. Tatsache ist aber, dass Intervention erst dann einsetzt, wenn es schon Opfer gibt und Strafrecht erst einsetzt, wenn es zumindest schon Opfer und zumeist auch TäterInnen dazu gibt.

Persönlich finde ich das Verhalten der jeweiligen EntscheidungsträgerInnen respektlos und beschämend, weil damit – bewusst oder unbewusst – übersehen wird, dass „wir das Kind in den Brunnen fallen lassen, statt es davor zu schützen und zu stärken.

Woher kommen diese zwar verständlichen, aber inakzeptablen Reaktionen und Ängste?
Beide – Reaktionen wie Ängste – resultieren aus einer Konditionierung der Politik durch Medien und basieren auf einer zunehmenden „Boulevardisierung“ von Medien.

Diese „Boulevardisierung“ ist einerseits nach dem Motto – schneller, kürzer, prägnanter, emotioneller, direkter … – geprägt von der Erreichung monetärer Ziele und der (Un-)Informationsbereitstellung mit einer Halbwertszeit von wenigen Minuten; maximal!

Mit dem 9. Österreichischer Präventionskongress verbinden wir daher auch das Ziel, dass Österreich auch in Zukunft ein diesen Werten – Rücksichtnahme, Toleranz, Achtung, Wertschätzung, Respekt – verpflichtetes Land bleibt, in dem nicht nur Solidarität zählt und Respekt als Basis für ein friedliches Zusammenleben verstanden wird, sondern auch die Politik und die Medien (Kriminal-)Prävention den Respekt einräumen, der dieser so vielfältigen und mit so viel persönlichem Engagement und hohem Potential wissenschaftlich wie praxisorientierten Disziplin zusteht.

Darf ich Sie abschließend noch um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen bitten:
Ich möchte es zum Schluss mit einem Zitat von Alfred Herrhausen sagen, der 1989 von RAF-Terroristen ermordet wurde, und dass für mich wie ein Leitsatz ist: „Wir müssen das, was wir denken, sagen. Wir müssen das, was wir sagen, tun. Wir müssen das, was wir tun, dann auch sein!“

Herr Ebenschweiger, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Österreichischer Präventionskongress

Österreichisches Zentrum für Kriminalprävention

Prof. Dr. Britta Bannenberg

29. Zwischenruf: 20. Juni 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Britta Bannenberg
„Cybercrime oder Internetkriminalität muss endlich angemessen strafrechtlich ermittelt und verfolgt werden. Auch die Nutzer müssen sich der Gefahren bewusst werden.“

Heute ist Samstag, der 20. Juli 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon die Juristin und Kriminologin Prof. Dr. Britta Bannenberg. Sie hat den Lehrstuhl für Kriminologie der Universität Gießen innen und zu ihren primären Forschungsschwerpunkten gehören die Themen Amok, Terror und Tötungsdelikte; Gewalt; Organisierte Kriminalität; Hate Crime, Kriminalprävention; Opferforschung; Korruption und Wirtschaftskriminalität.
Frau Bannenberg, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
In den Corona-Zeiten zeigt sich aus meiner Sicht ein Problem, das unbedingt angegangen werden muss: Bessere Tataufklärung und Straftatenverfolgung im Bereich Cybercrime. Dazu zählt auch eine höhere Sensibilität in der Bevölkerung, sei es in privaten Angelegenheiten, wie auch bei Behörden, Unternehmen und Institutionen. Der weite Bereich der Internetkriminalität umfasst sehr verschiedene Straftaten und unsere Aufmerksamkeit richtet sich bisher – mehr oder weniger gut und mehr oder weniger ernsthaft bis genervt – auf den Datenschutz. Wirklich bewusst wird vielen die Verletzlichkeit unseres modernen Lebens aber erst dann, wenn Schaden angerichtet ist. Das Computer-Virus, das keinen Schaden anrichtet, mag etwas lästig sein, die gestohlene Identität, mit der gestohlene Waren transportiert werden, ist schon etwas anderes (wenn es denn überhaupt aufgedeckt wird). An der Justus-Liebig-Universität Gießen waren wir im Dezember 2019 von einem großen Hacker-Angriff betroffen und die gesamte IT wurde vom Netz genommen. Die Folgen sind bis heute spürbar und es ging trotzdem noch glimpflich ab: Keine Daten wurden gelöscht oder abgegriffen, so weit man weiß und merkt. Eine Universität kann wie eine von einem Hackerangriff betroffene Stadt gar nicht leugnen, dass sie Opfer einer – von wem auch immer ausgeführten – Attacke dieser Art wurde. Mittlerweile haben eine ganze Reihe von Institutionen diese bittere Erfahrung machen müssen. Im gleichen Zeitraum wurden etliche große und kleine Unternehmen, Arztpraxen und Selbstständige ebenfalls Opfer von Hackerangriffen, teilweise mit bösen Folgen, indem die komplette Datenbank zerstört oder gestohlen wurde. Davon hört man nichts. Die Betroffenen zeigen nicht an, um keine Reputationsschäden zu erleiden. Für Kriminologen ist das nicht überraschend, ein Dunkelfeld gibt es immer und hier gibt es starke Interessen an einer Nichtanzeige. Ob jedem auch nur die rudimentären Empfehlungen zum Schutz der Computer durch das BSI etwa bekannt sind und waren, kann bezweifelt werden. An der Umsetzung besserer Schutzmaßnahmen dürfte es weitgehend fehlen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Geht der vom Ebay-Betrug betroffene Bürger zur Polizei, erlebt er Erstaunliches: In der Regel wird er abgewimmelt, vielleicht noch kritisch gefragt, warum er denn unbedingt etwas auf Ebay kaufen oder verkaufen müsse. Die Aufklärung leidet an strukturellen Defiziten. Die Polizeibehörden müssen hier genauso dringend aufrüsten und die notwendigen Kenntnisse vermitteln wie die Justiz. Ob der aufgeklärte Betrug, Identitätsdiebstahl – oder auch die eine oder andere sonstige Internetstraftat (Hate Crime, Bedrohung, Beleidigung unflätigster Art...) überhaupt von der Justiz sanktioniert wird, kann meistens bezweifelt werden und das ahnen die Bürger auch. Nicht nur wegen der vergleichsweise geringen Tatschuld und -schwere, die eine Verfahrenseinstellung nach sich zieht, sondern auch wegen hier gar nicht vorhandener Kompetenzen zur Beweiswürdigung und Einschätzung der Vorgehensweisen der Täter.
Schaut man sich die Polizeiliche Kriminalstatistik der letzten 10 – 15 Jahre so an, dann sinken die traditionell stark verbreiteten Deliktsbereiche Diebstahl und Betrug so langsam unter 50 % aller Delikte. Die Internetkriminalität blüht dagegen und wird nicht ermittelt, nicht erfasst und ist somit offiziell kaum vorhanden.

Darf ich Sie abschließend noch um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen bitten:
Ob man bei diesem Umstand – gerade die steigenden Internetaktivitäten jeder Art in Corona-Zeiten dürften für gravierende Anstiege im Dunkelfeld sprechen – den Tätern auch nur ansatzweise auf die Spur kommt, darf bezweifelt werden. Wenn nicht einmal der Einzelfall gut ermittelt wird, kann erst recht nicht davon ausgegangen werden, dass organisiert kriminelle Gruppen enttarnt, aus dem Verkehr gezogen und sanktioniert werden. Die Organisierte Kriminalität als Kontrollkriminalität ist ein weiterer brach liegender Bereich strafrechtlicher Ermittlungen in Deutschland. Dabei zeigt allein das Beispiel Cybercrime, dass Täter hier von beiden Seiten Aufklärungsdruck verspüren könnten:
Durch anzeigende Bürgerinnen und Bürger auf der einen und gut ausgestattete OK-Dienststellen (die kaum existieren) auf der anderen Seite. Damit ist in diesem Bereich der Kriminalität die ohnehin kleine abschreckende Wirkung des Strafrechts durch Entdeckungswahrscheinlichkeit kaum gegeben. Die gesellschaftliche Entwicklung wird aber dazu führen, dass sehr viele Bereiche des täglichen Lebens vom Internet abhängig werden. Darauf ist präventiv und repressiv zu reagieren und das muss uns allen klar werden.

Frau Bannenberg, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Professur für Kriminologie der Universität Gießen

Prof. Dr. Oskar Gstrein

28. Zwischenruf: 19. Juni 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Oskar Gstrein
„Daten verbessern das Krisenverständnis, aber Technologie ist kein Allheilmittel.“

Heute ist Freitag, der 19. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Juristen und Philosophen Professor Dr. Oskar Josef Gstrein. Seit seiner vielbeachteten Dissertation mit dem Titel „Das Recht auf Vergessenwerden als Menschenrecht: hat Menschenwürde im Informationszeitalter Zukunft?“ hat er zahlreich zu diesem Themenkomplex publiziert. Aktuell arbeitet er als Assistenzprofessor an der Universität Groningen in den Niederlanden.

Herr Gstrein, ich grüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Mir ist es in der gegenwärtigen Situation besonders wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verwendung großer Datenmengen (‚Big Data‘) für sich allein keine Lösung darstellt. Daten verbessern das Krisenverständnis, aber Technologie ist kein Allheilmittel. Wahrscheinlich haben wir gerade aufgrund des schnelleren und verbesserten Verständnisses von komplexen Zusammenhängen die Chance, besser als frühere Generationen mit einer Pandemie umzugehen. Aber die gesteigerte Komplexität in der Informationserfassung und -verarbeitung kann auch dazu führen, dass man falsche Prioritäten setzt und sich auf die falschen Dinge zum falschen Zeitpunkt konzentriert. Daten muss man im richtigen Kontext verstehen, und das bedarf Expertise und Erfahrung.

Ihr besonderer Fokus sind die Menschen- und Bürgerrechte?

Ich sehe Menschen- und Bürgerrechte als historische Erfahrungswerte, die aufgrund ihrer Wichtigkeit zu Grundpfeilern unserer Gesellschaft geworden sind. In Zeiten der Stabilität und vermeintlichen materiellen Wohlstands erscheinen sie manchen als Ballast, der unnötige Anforderungen stellt. Aber wenn sich die Dinge – wie in den letzten Wochen und Monaten – schnell und unvorhersehbar verändern, erlauben sie es uns Ereignisse in Kontext zu setzen. Die Kunst dabei ist diese abstrakten Werte konkret auf die jeweilige Situation anzupassen und sie zur Grundlage von neuen Strategien zur nachhaltigen Krisenbewältigung zu machen. Gerade wenn es um die Verwendung neuer Technologien geht ist das besonders spannend, aber es gibt auch einiges an historischen Erfahrungen das man dabei berücksichtigen kann. So erinnert die gegenwärtige Situation mit den Diskussionen um die Schaffung neuer Überwachungssysteme (Kontaktverfolgung etc.) auch an die Lage nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York im September 2001. Da wurde auch manches überstürzt eingeführt, was uns alle weiter beschäftigt hat als die eigentliche Bedrohung lange vorbei war.

Sie betonen deshalb das Recht auf Datenschutz, Privatsphäre auch und gerade mit Blick auf technologische Entwicklungen?

Natürlich stimmt es, dass niemand ein absolutes Recht auf Privatsphäre oder Datenschutz hat. Allerdings finde ich auch, dass mit dieser Aussage wenig an neuer Erkenntnis gewonnen wird. Generell gilt es pseudo-ökonomische Abwägungen im Sinne von ‚ein bisschen weniger Privatsphäre hat etwas mehr Sicherheit zur Folge; da muss man unter den Umständen Solidarität einfordern‘ zu vermeiden. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich Gesellschaften in vielen westlichen Ländern dadurch ausgezeichnet beides zu ermöglichen. Wir sind verhältnismäßig frei in einer verhältnismäßig sicheren Gesellschaft. Das ist nicht immer perfekt und meist gibt es Verbesserungspotenzial. Allerdings ist es auch ein großes Gut, dass keineswegs selbstverständlich ist und für das man sich permanent einsetzen muss. Das gilt besonders wenn es um die Entwicklung und Anwendung neuartiger Technologien geht, da hier wiederum eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem eigentlichen Zweck und der verhältnismäßigen Anwendung erforderlich ist. Ansonsten ist eine sichere Anwendung in einer freien Gesellschaft nicht gewährleistet.

Was bedeutet das für moderne Datenverantwortlichkeiten?

In unserem Artikel argumentieren wir, dass der traditionelle Ansatz im Bereich des Datenschutzes nicht ausreicht um mit den gegenwärtigen Herausforderungen auf ethisch wünschenswerte Weise umzugehen. Der Grund dafür ist einerseits, dass Datenschutz sich traditionell sehr stark am Individuum orientiert. Andererseits geht es vor allem um das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Dem stehen die Herausforderungen der letzten Jahre und Jahrzehnte entgegen, in denen der Einfluss von Daten auf die Autonomie von ganzen Gruppen in der Gesellschaft immer wichtiger wird, der grenzüberschreitende Bezug dominiert, und indem sowohl private als auch internationale Akteure entscheidende Rollen spielen. Anstatt sich nur darauf zu konzentrieren geltendes Recht formell umzusetzen, würden wir uns eine Form von ‚verantwortlichem Umgang mit Daten‘ bzw. datengetriebenen Technologien wünschen. Beispiele dafür lassen sich unseres Erachtens im Bereich der humanitären Hilfe finden, wo in den vergangenen Jahren viel zu diesen Themen geforscht und entwickelt wurde.

Was ist Ihre zusammenfassende Forderung für die einschlägigen Diskurse der näheren Zukunft?

Wie bereits eingangs erwähnt bin ich grundsätzlich überzeugt, dass große Mengen an schnell verfügbarer Information sehr hilfreich dabei sein können komplexe Herausforderungen zu bewältigen. Dieser Kategorie sind sicher auch Pandemien zuzurechnen, und leider wird die gegenwärtige Situation uns noch einige Zeit beschäftigen, noch mehr Leid erzeugen und weiterhin schmerzhafte Anpassungen fordern. Es ist verständlich, dass da der Druck auf Entscheidungsträger steigt ‚endlich etwas zu tun, damit etwas passiert‘. Allerdings muss man sich vor Augen halten wie effektiv und nachhaltig solche Ansätze sind. Es gibt keine einfachen Lösungen für Herausforderungen die niemand umfassend versteht. Technologie kann einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten, aber sie wird nicht alle Lösungen bieten, die benötigt werden.

Herr Gstrein, herzlichen Dank für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

https://www.rug.nl/staff/o.j.gstrein/
 

Prof. Dr. Bernd Maelicke

27. Zwischenruf: 10. Juni 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Bernd Maelicke
„Es ist höchste Zeit für eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung“

Heute ist Mittwoch, der 10. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Juristen und Sozialwissenschaftler Professor Dr. Bernd Maelicke. In seinen zentralen  beruflichen Stationen war er Leiter der Fortbildungsabteilung beim Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Direktor des Instituts für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Frankfurt, Ministerialdirigent im Justizministerium des Landes Schleswig-Holstein sowie Gründer des Institutes für Sozialwirtschaft in Lüneburg.
Herr Maelicke, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen vor dem Hintergrund der Corona-Krise besonders wichtig erscheinen.

Derzeit und auch in absehbarer Zukunft dominiert das Thema „Corona und die Folgen“ den Alltag der Bürger und in allen Politikfeldern auch die Entscheidungsprozesse in einer bisher völlig unbekannten Dimension. Die tödliche und globale   Bedrohung durch den Virus Covid 19 verdrängt in ihrer Bedeutung selbst fundamentale Krisen wie die ungelöste Flüchtlingsfrage, den Klimawandel oder den weltweiten Rassismus. Unbegrenzte Kreditaufnahmen und Verschuldungen der öffentlichen Haushalte werden auf Jahrzehnte unsere Kinder und Enkel belasten – wie sich die Zukunft gestaltet oder gestalten lassen wird, ist völlig ungewiss.
Täglich erleben die Bürger die staatlichen Restriktionen durch das Abstandsgebot, die Maskenpflicht, die Einschränkungen in Kitas, in Schulen oder in Senioreneinrichtungen. Demokratische Grundfragen wie Eingriffe in Grundrechte oder Art und Umfang der Mitwirkung der Parlamente werden zurück-gestellt und bedürfen „nach Corona“ der kritischen Aufarbeitung. 
Der alte Verwahrvollzug lebt wieder auf: Diese unsicheren Rahmenbedingungen belasten auch die Situation in den 180 Gefängnissen mit ca. 65.000 Gefangenen in U-Haft und Strafhaft in Deutschland. Schulische und berufliche Qualifizierung, Soziales Training, Therapien für Sexual- und Gewalttäter, Sport- und Freizeitangebote, Gottesdienste, Besuche, Offener Vollzug und Freigänge werden in großem Umfang eingeschränkt. Der moderne Behandlungsvollzug, wie er in den neuen Vollzugsgesetzen der Bundesländer festgeschrieben wurde, wird schrittweise reduziert, der alte Verwahrvollzug aus dem letzten Jahrhundert lebt wieder auf. Diese Einschränkungen fallen den Anstalten und den Ministerien außerordentlich schwer, aber die Gesundheit der Bediensteten und der Gefangenen und die Sicherheit und Ordnung haben hohe Priorität.  Von Corona  bedroht sind vor allem ältere Beamte, dies verschärft die eh schon belastete Personalsituation.
Die Öffentlichkeit und die Medien interessieren sich für diese Problematik hinter den Mauern wenig.   Umfragen zeigen, dass in der Gesellschaft die Furcht vor Kriminalität durch andere Ängste abgelöst wurde. Dramatische Einzelfälle finden zwar immer noch großes mediales Interesse, führen aber nicht zu grundlegenden Veränderungen in der Praxis oder in den Partei- oder Regierungsprogrammen. Kriminal- und Justizpolitik sind nachrangig geworden.
In lebensbedrohenden Krisensituationen mit ungewissem Ausgang setzen die Bürger mit absoluter Priorität auf Sicherheit, wollen weitere Risiken soweit irgend möglich vermeiden. Und Politiker, die mit der Bewältigung fundamentaler Krisen extrem herausgefordert sind, wollen in erster Linie wiedergewählt und nicht mit zusätzlichen und komplexen Themen konfrontiert werden.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Der Flickenteppich der stationären und ambulanten Resozialisierung: Heribert Prantl konstatiert in seinem Beitrag zum Pfingstfest 2020: „Die Föderalismusreform hat die Wissenschaft vom Strafvollzug marginalisiert – und sie hat die gesellschaftliche Debatte über den Strafvollzug gekillt.“ Diese Reform aus dem Jahr 2006 hat  zu ca. 80 verschiedenen Ländergesetzen u.a. zum Jugendarrest, zum Jugendstrafvollzug, zur Untersuchungshaft und zum Erwachsenenvollzug geführt – sie hat eine „neue Unübersichtlichkeit“ (Frank Neubacher, 2020) bewirkt, die  Einheitlichkeit des Rechts- und Sozialstaats  Deutschland  ist grundlegend in Frage gestellt.  Der versprochene föderale „Wettbewerb der Konzepte“ hat nicht stattgefunden, Zwischenergebnis ist ein löchriger Flickenteppich. Und Corona verschärft zusätzlich diese strukturellen Probleme.
Für die ambulante Resozialisierung existiert dieses „Verwirrsystem“ bereits seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts.  Rechtliche Grundlagen, Organisationsfragen, Fallzahlen und Fallsteuerung der Gerichtshilfe, der Bewährungshilfe und der Führungsaufsicht  sind trotz bundesweit gleichermaßen  geltenden gesetzlichen Grundlagen in der StPO und im StGB in den jeweiligen Bundesländern  höchst unterschiedlich geregelt – z.Zt. betrifft dies insgesamt ca. 250.000 Probanden ( genaue Zahlen im Ländervergleich werden nicht erhoben ).  Das Klientel der Bewährungshilfe entspricht in vielen Merkmalen durchaus den Gefangenen im Strafvollzug, die Rückfallquoten sind allerdings  nur halb so hoch   – allein diese seit Jahrzehnten bekannten Daten verlangen grundlegende  Reformen im Gesamtsystem der ambulanten und stationären Resozialisierung.
Die Marginalisierung der Vollzugswissenschaft und der Tod der öffentlichen Debatte haben dazu geführt, dass die Löcher im bundesweiten Flickenteppich der Resozialisierung immer grösser werden, dazu nur ein Beispiel:   die Gefangenenraten in den Ländern entwickeln sich immer weiter auseinander.  Schleswig-Holstein ist es gelungen, die Belegungszahlen auf unter 40 pro 100.000 der Bevölkerung dauerhaft zu reduzieren (das ist etwa die Hälfte des Bundes-Durchschnitts).  Die gewollte Folge ist, dass dadurch weniger Gefangene mit den bekannt hohen Rückfallrisiken entlassen werden – weniger Gefangene bedeuten weniger Entlassene bedeuten weniger Rückfälle.  Zusätzlich werden so die hohen Kosten der stationären Freiheitsentziehung (pro Tag ca. 130 EUR aufwärts) gespart. Das eröffnet finanzielle Spielräume zum Ausbau der Bewährungshilfe und zur Förderung der Freien Straffälligenhilfe – sie hat besondere Möglichkeiten, die Soziale Integration nach der Entlassung wirksam zu begleiten. 
Ähnliche Beispiele sind die divergierenden Quoten im Offenen Vollzug, Freigang, Urlaub und Ausgang, sie unterscheiden sich in den Ländern zum Teil bis zum Zehnfachen. Gleiches gilt für die bedingten Entlassungen auf Bewährung, die wiederum die Chancen einer rückfallfreien Eingliederung nach der Entlassung grundlegend verbessern.  Auch das sog. Übergangsmanagement bedarf  dringend der gesetzlichen, organisatorischen und finanziellen Absicherung.  Leuchtturmprojekte reichen nicht aus, wenn jeder Entlassene vor und nach der Entlassung systematisch vorbereitet und begleitet werden soll. Nur im Saarland und in Hamburg gibt es entsprechende Landes-Resozialisierungsgesetze, in den anderen Ländern muss Fehlanzeige festgestellt werden. 
Und auch die höchst unterschiedlichen laufenden Ausgaben in den Ländern pro Jahr und pro Gefangenen   verstärken den Befund eines strukturellen Legitimations- und Steuerungsproblems: Wodurch rechtfertigen sich diese großen Differenzen? Werden die öffentlichen Haushaltsmittel an den richtigen (wirksamsten) Stellen der Wertschöpfungskette Resozialisierung eingesetzt? Warum gibt es kein unabhängiges Bundesinstitut, das nachhaltig und wirkungsorientiert Qualität und Kosten der ambulanten und stationären Resozialisierung kontrolliert?

Am 22. Juni d.J. erscheint im Nomos-Verlag ihr neues Buch unter dem Titel „Resozialisierung und Systemischer Wandel“. Können Sie uns als Appetithäppchen schon einen zentralen Gedanken vorab verraten?
Systemischer Wandel und „Große Transformation“: In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann für den deutschen Strafvollzug die Neuzeit – wie wurde damals der Reformprozess ermöglicht? Es gab zahlreiche Fachkommissionen der Verbände, der Parteien, der Kirchen, des Bundesjustizministeriums, es gab Gesetzentwürfe von sog. „Alternativprofessoren“, es gab den internationalen Ergebnistransfer. Herausragende Länder- und Bundes-JustizministerInnen, auch Bundespräsident Gustav Heinemann und seine Ehefrau Hilda, engagierten sich persönlich. Die Medien setzten sich stark für die Reform ein.  Das Bundesstrafvollzugsgesetz trat am 1. 1. 1977 in Kraft, es wurde zuvor im Bundestag und Bundesrat mit großen Mehrheiten beschlossen. 

Bereits seit ihren Studienzeiten haben Sie sich mit Reformansätzen in der Kriminalpolitik befasst und gelten als anerkannter Experte im Arbeitsfeld der ambulanten und stationären Resozialisierung. Ihre Promotion hatte den Titel „Entlassung und Resozialisierung“. Welche politischen und strukturellen Chancen und Risiken sehen Sie derzeit für die Kriminalprävention?
Wir brauchen – und nicht erst nach Corona – wieder einen neuen Aufbruch in eine neue Zeit. Föderale Vielfalt allein reicht nicht aus, immerhin geht es um Wirkungsweise und Wirksamkeit von Grundrechtseingriffen, um Rückfallverhütung, um Opferschutz, um Reduzierung sozialer Folgeschäden, um sozialen Frieden in der Gesellschaft – alles Aufgaben des modernen Rechts- und Sozialstaats.
Gemessen an diesen Zielen ist das etablierte Reso-System weit von einer optimalen Wirkung entfernt. Es genügt nicht gleichsam naturwüchsig die weitere Entwicklung abzuwarten oder nur mit einzelnen Projekten und Initiativen kurzfristige Effekte erreichen zu wollen.
In Österreich, in der Schweiz und in Deutschland ist diese (selbst-) kritische Analyse weitgehend identisch. In diesen Ländern gibt es aktuelle  Experten-Memoranden für „Resoz-Masterpläne“, für „Reso-Agenden 2025“ und für „10 Gebote guter Kriminalpolitik“, die in hohem Maße überein-stimmen und sich länderübergreifend vernetzen wollen – auch verbunden  mit ähnlichen Überlegungen des  Rates der Europäischen Union.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen
Dies könnten hoffnungsvolle Zeichen für einen „Systemischen Wandel“ und für den Beginn einer nationalen und internationalen „Große Transformation“ in der Reso-Politik sein. Es ist höchste Zeit für eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags „Zur Optimierung der ambulanten und stationären Resozialisierung“, unter Mitwirkung von Experten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. (Friedrich Hölderlin, 1803 / 1808) 

Bernd Maelicke, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

   

Stefan Daniel

26. Zwischenruf: 04. Juni 2020

Erich Marks im Gespräch mit Stefan Daniel
„Junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, hilft nicht nur in Krisenzeiten“

Heute ist Donnerstag, der 4. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Stefan Daniel, den Geschäftsführer der Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention, kurz DFK. Herr Daniel ist von Hause aus Jurist und war zunächst als Staatsanwalt tätig. Nach anschließenden Stationen bei der Generalstaatsanwaltschaft Köln und in der Strafrechtsabteilung des Bundesministeriums der Justiz ist er seit jetzt mehr als zehn Jahren in verantwortlicher Position im DFK tätig und leitet dort die Geschäftsstelle.
Herr Daniel, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen vor dem Hintergrund der Corona-Krise besonders wichtig erscheinen.
Es sind ja jetzt schon weit mehr als 20 Zwischenrufe zusammengekommen, die sich, beginnend mit den Ausführungen von Professor Pfeiffer, dessen Prognosen zur häuslichen Gewalt sich laut der jüngst veröffentlichten Studie der TU München leider bewahrheitet haben, in sehr vielfältiger Weise und aus ganz unterschiedlichen Blickrichtungen mit den Herausforderungen beschäftigen, vor die uns die Corona-Pandemie jetzt schon seit längerer Zeit stellt.
Diese Herausforderungen sind äußerst vielfältig, und ich möchte an dieser Stelle ganz bewusst nicht die x-te Detailherausforderung hinzufügen.
Wichtiger erscheint mir die die bisherigen Zwischenrufe zusammenfassende Feststellung, dass wir derzeit – und das noch verhältnismäßig lange – in einer Zeit vielfacher Unsicherheiten leben. Für uns als Präventionsakteure folgt daraus aus meiner Sicht vor allem eines, nämlich dass wir einen kühlen Kopf behalten und, auf Fakten und Evidenzen beruhend, unsere präventive Arbeit fortsetzen. Natürlich gerne mit noch größerem, den Herausforderungen der aktuellen Situation geschuldeten Elan.
Sie, Herr Marks, haben das am 19. März in den täglichen DPT-News ja bereits trefflich mit der Abwandlung eines bekannten Posterspruches zum Ausdruck gebracht, nämlich: „Keep calm and carry on preventing“.
Mit keep calm ist natürlich nicht die Botschaft gemeint, dass alles nicht so schlimm ist und letztlich kein Grund zur Besorgnis besteht. Verschwörungstheoretikern, die dies behaupten, ist deutlich entgegenzutreten. Die Pandemie ist und bleibt eine ernst zu nehmende Bedrohung. Sie hat national wie international zu gewaltigen Herausforderungen geführt und wird dies aus weiterhin tun. Zu Herausforderungen für den Staat. Zu Herausforderungen für die Wirtschaft. Und – dies ist aus präventiver Sicht besonders wichtig – zu Herausforderungen für die Menschen, insbesondere für die Schwächeren.
Keep calm bedeutet nach meiner Überzeugung, die präventiven Bedarfe mit dem bereits erwähnten kühlen Kopf zu erheben und daraufhin wohlüberlegte Präventionsmaßnahmen zu entwickeln, umzusetzen und zu fördern.
Bei der Entwicklung präventiver Maßnahmen ist mir aktuell übrigens alles andere als bange. Es gibt zahlreiche hervorragende Akteure, die sich, übrigens nicht nur in der aktuellen Krisenzeit, vorbildlich engagieren und Angebote bereitstellen. Sei es die Polizeiliche Kriminalprävention, die zahlreiche Aufklärungskampagnen zu den aktuellen Corona-Betrugsmaschen entwickelt hat. Oder seien es die vielfältigen Online-Hilfsangebote zivilgesellschaftlicher oder staatlicher Akteure, die im Netz verfügbar sind. Der Deutsche Präventionstag verweist ja, ebenso wie beispielsweise die Website unserer Stiftung https://www.kriminalpraevention.de/hinweise-corona.html, auf zahlreiche dieser „Krisen“-Angebote.

Kann man sagen, die Corona-Krise bestimmt alle Tagesordnungen?
Wichtig erscheint mir jedoch, dass es uns gelingen muss, unabhängig von Krisenzeiten – und auch unabhängig von bestimmten Deliktstypen – dasjenige in den Blick zu nehmen, was man, gerade jetzt, recht treffend mit dem Begriff Krisenfestigkeit beschreiben kann: Wir müssen den Vulnerablen helfen. Aus kriminalpräventiver Sicht müssen wir konkret insbesondere Familien, Kinder und Jugendliche stärken. Wir müssen junge Menschen in ihrer Entwicklung unterstützen, sie mit entsprechenden Ressourcen ausstatten und sie so, nicht nur in den Zeiten der Krise, möglichst resilient machen.
Gestatten Sie mir, dass ich deshalb auf genau diesen Themenschwerpunkt hinweise, der die Arbeit unserer Stiftung DFK schon seit Beginn an begleitet:
Entwicklungsförderung und Gewaltprävention, verstanden als frühe Stärkung allgemeiner Lebenskompetenzen und persönlicher Ressourcen, hilft, Menschen krisenfest zu machen. Und zwar unabhängig davon, wo konkret die nächste Bedrohung lauert. Die Erhöhung von Schutzfaktoren bei gleichzeitiger Reduzierung von Risikofaktoren führt zu einer Stabilisierung der Persönlichkeit und ist damit hilfreich für zahlreiche Belastungssituationen. Eine universelle Entwicklungsförderung ist insbesondere eine Chance, positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung derjenigen jungen Menschen zu nehmen, deren familiäre Ressourcen begrenzt sind. Frühe Präventionsansätze fördern und stärken alle Kinder, die daran teilnehmen. Wir als Stiftung treten seit jeher – und in letzter Zeit verstärkt – für diesen universellen Präventionsansatz ein. Wir sind davon überzeugt, dass kluge, evidenzbasierte und an die Bedarfe junger Menschen angepasste Maßnahmen dazu führen, dass zahlreichen negativen Entwicklungen zuvorgekommen werden kann. Nach dem lateinischen Wortstamm heißt prävenieren genau dieses, nämlich „zuvorkommen“. Dieses Wort umfasst viel weitreichendere Herausforderungen als sie gemeinhin unter Prävention im Sinne von „Vorbeugung“ verstanden und umgesetzt werden. Deshalb bedarf es aus meiner Sicht im verstärkten Maße früher, universeller und entwicklungsfördernder Präventionsarbeit, auch und insbesondere im Rahmen von Regelangeboten.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Viele Phänomene, denen es präventiv zu begegnen gilt, fallen nicht vom Himmel. Sie haben ihre Ursache im Aufwachsen der Menschen. Diese Individualentwicklung muss bestmöglich begleitet werden. Durch frühzeitige, entwicklungsfördernde Unterstützungsangebote. Hierdurch werden junge Menschen mit dem nötigen sozialen Rüstzeug ausgestattet und sie lernen, nicht nur, aber insbesondere in Zeiten einer Krise mit eigenen Ängsten und Sorgen vernünftig umzugehen und den hiermit verbundenen Stress, auch beispielsweise später in ihrer Rolle als Eltern, angemessen zu bewältigen. Wir als Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention unterstützen Projektträger, die genau diesen Präventionsansatz im Blick haben.
Und gestatten Sie mir ein zweites Anliegen, das ich kurz und knapp mit der vielleicht schon ein wenig abgegriffen klingenden Floskel, dass wir die Krise auch als Chance begreifen sollten, bezeichnen möchte. Umbrüche dienen stets auch der Selbstreflexion. Das heißt für unsere Präventionsarbeit, Gewohnheiten zu hinterfragen. Also: Wie und in welchem Umfang kann präventive Arbeit angepasst oder neu gedacht werden? Hier haben wir in den letzten Wochen auf anderen Gebieten viel gelernt, ich nenne nur das Stichwort Videokonferenz. Ich denke, dass wir, wenngleich der unmittelbare Kontakt zu unserer Zielgruppe auch künftig unverzichtbar ist, digitale Angebote deutlich ausbauen sollten. So könnten beispielsweise Qualifizierungsmaßnahmen für Fachkräfte im Bereich der Prävention leichter zugänglich gemacht und so ein Stück weit selbstverständlicher werden. Auch auf diesem Gebiet entwickeln wir als Stiftung DFK derzeit Ideen und fördern Projektpartner, die sich um diese Fragen kümmern.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Angst und hektisch vorgetragene Lösungsvorschläge sind, nicht nur in Krisenzeiten, ein schlechter Ratgeber. Wir sollten mit dem bereits erwähnten kühlen Kopf an die präventiven Herausforderungen herangehen, vor denen wir in diesen Wochen und Monaten zweifelsohne stehen. Wir müssen, auch mit Blick auf die „nächste“ Krise, Bedingungen schaffen, unter denen junge Menschen zu starken Persönlichkeiten heranwachsen. Auf diesem Wege lernen sie zunehmend, auch durch schwere Zeiten zu gehen.

Herr Daniel, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Stiftung Deutsches Forum Kriminalprävention (DFK)

Heinz Hilgers

25. Zwischenruf: 02. Juni 2020

Erich Marks im Gespräch mit Heinz Hilgers
„Arme Kinder drohen in der aktuellen Lage, den Anschluss zu verlieren.“

Heute ist Dienstag, der 2. Juni 2020. Ich bin Erich Marks und als als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Präsidenten des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers. Herr Hilgers hat dieses Amt seit 1993 inne und war zuvor langjähriger Bürgermeister der Stadt Dormagen, Landtagsabgeordneter in Nordhrein-Westfalen sowie Leiter des Jugendamtes in Frechen. Herr Hilgers kennt daher alle Facetten der Arbeit im Kinderschutz aus der Praxis, aus kommunaler sowie aus bundespolitischer Sicht seit vielen Jahren.

Herr Hilgers, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen vor dem Hintergrund der Corona-Krise besonders wichtig erscheinen.

Die Lage von Kindern und ihren Familien ist aktuell sehr schwierig. Wir haben nur ein sehr diffuses Bild von dem, wie sich die Corona-Krise etwa auf Gewalt innerhalb der Familie auswirkt. Im März und April berichteten Jugendamtsmitarbeiter*innen mir von einem starken Rückgang der Fremdmeldungen zu Kindeswohlgefährdungen und in Einzelfällen beinahe auf Null. Das hatte sicher zum einen mit dem Wegfall von Kita und Schulen als Frühwarnsystem zu tun. Aber möglich ist auch, dass die Familien diesen begrenzten Zeitraum besser gemeistert haben, als wir gemeinhin glauben. Besorgniserregend ist, dass nun im Mai die Zahlen rasant zu steigen scheinen. Die Berichte über schwere Misshandlungen nehmen zu, auch wenn wir nach wie vor kein klares Bild haben.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Ein anderer wichtiger Punkt, der aber öffentlich bisher nur wenig diskutiert wird, ist die Lage von armen Kindern in unserem Land. Bildung hängt in Deutschland schon immer vor allem von der wirtschaftlichen Situation der Eltern ab. Mit Kitas und Schulen kann diesem Ungleichgewicht wenigstens zu einem kleinen Teil, wenn auch längst nicht ausreichend, entgegengewirkt werden. Nun haben aber Kinder in Deutschland seit vielen Wochen keinen regulären Unterricht mehr. Es wird von den Eltern erwartet, dass sie die Beschulung zuhause übernehmen. Die Politik setzt voraus, dass da Zuhause mehrere Endgeräte vorhanden sind. Aber wer hat denn Zuhause schon mehrere Laptops und PCs, an denen gleichzeitig die Kinder lernen und Mutter und Vater im Homeoffice arbeiten können? Ganz zu schweigen von den erhöhten Kosten für Drucker, Papier und so weiter.

Die Bundesregierung hat jetzt eine Laptopprämie aufgelegt, die mit 150€ erstens nicht ausreichend ist. Und die zweitens bis heute bei keinem bedürftigen Kind angekommen ist. Man rettet die Lufthansa mit wahnsinnigen Milliardenbeträgen und lässt arme Familien in dieser Krise vollständig allein. Das macht mich wirklich sauer.

Und ein anderer Punkt: Bedürftige Kinder haben einen Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen in Kita und Schule. Wenn die geschlossen sind, müssen Familien diese Kosten zusätzlich stemmen. Und das bei leergehamsterten Regalen und in der Regel kaum noch verfügbaren günstigen Lebensmittel. Für diese Kosten könnte man völlig unbürokratisch Kompensation leisten. Der Staat spart an dieser Stelle ja das Geld ein! Stattdessen gängelt man die armen Familien und will ihnen Essen auf Rädern – aber nur für die Kinder – zur Verfügung stellen. Da fehlt mir wirklich die Fantasie, wie das umgesetzt werden soll. Passiert ist da jedenfalls bis heute so gut wie nichts.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:

Es gibt eine Ideologie des Misstrauens gegen arme Familien bei der ich mich nur mühsam beherrschen kann. Die Corona-Krise offenbart diese Haltung nun. Meine große Befürchtung ist, dass sich Bildungs- und Chancengerechtigkeit in Deutschland nach dieser Krise noch einmal verschlechtert werden haben.  Von Armutsprävention ist jedenfalls kaum die Rede.

Herr Hilgers, haben Sie herzlichen Dank für diesen pointierten Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

 

Deutscher Kinderschutzbund (DKSB)
 

Dr. Monika Schröttle

24. Zwischenruf: 28. Mai 2020

Erich Marks im Gespräch mit Dr. Monika Schröttle
„In den nächsten Jahren müssen wir im Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis relevant und messbar vorankommen.“

Gewalt gegen Frauen – und kein Ende?
Über die Notwendigkeit intensivierter Prävention geschlechtsbezogener Gewalt
Dr. Monika Schröttle, Forschungs- und Beobachtungsstelle Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte (FOBES) am Institut für empirische Soziologie (IfeS), Nürnberg

Die Corona- Krise bot vielfach Anlass zu Warnungen und Befürchtungen, Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt könne vor dem Hintergrund der häuslichen Isolation und sozialer wie individueller Spannungen zunehmen. In Wirklichkeit wurde jedoch vor dem Hintergrund der Krise nur ein bereits davor gravierendes gesellschaftliches Problem noch deutlicher: das nach wie vor hohe Ausmaß an (schwerer) häuslicher Gewalt gegen Frauen und die Tatsache, dass von politischer Seite zu wenig für den Schutz und die Prävention von häuslicher und sexualisierter Gewalt und den Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis getan wird.
Alle bisherigen nationalen und internationalen Dunkelfeldstudien zu Gewalt gegen Frauen verweisen auf ein unvermindert hohes Ausmaß von körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt gegen Frauen, zumeist durch aktuelle oder frühere Beziehungspartner: etwa jede Vierte bis Fünfte war oder ist von häuslicher körperlicher und/oder sexueller Gewalt in ihrem Erwachsenenleben mindestens einmal betroffen (s. FRA und Expertise Schröttle). In Deutschland wird nach den aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistiken etwa jeden dritten Tag eine Frau durch ihren Partner oder Ex-Partner getötet; Tötungsversuche in diesem Kontext finden täglich statt (s. BKA 2019). Gewalt gegen Frauen zieht sich, wie Dunkelfeldstudien zeigen, durch alle Bildungs- und Sozialschichten und sie ist nicht auf bestimmte Kulturen oder Subkulturen begrenzt. Trotz der über 40 Jahre andauernden Aktivitäten der Frauen(haus)bewegung und Frauenpolitik auf nationaler und internationaler Ebene, die sehr viel Positives im Hinblick auf rechtliche Veränderungen, Forschung und Ausbau des Unterstützungssystems vorangebracht haben, gibt es bislang keine Hinweise auf einen relevanten Abbau von Gewalt gegen Frauen. Anders als bei Gewalt im öffentlichen Raum und Gewalt im elterlichen Erziehungsverhalten scheint Gewalt durch Männer gegen Frauen zu stagnieren und bislang nicht zurückzugehen.
Woran liegt das? Wurden nicht die richtigen Strategien und „Schalthebel“ für die Verringerung oder Beendigung von Gewalt im Geschlechterverhältnis gefunden? Waren bisherige Maßnahmen unzureichend oder wurde Gewaltprävention zu wenig breit und konsequent umgesetzt?
Zurecht kritisieren und skandalisieren insbesondere auch junge Frauen den weiterhin von Ungleichheiten und Gewalt geprägten Zustand der Geschlechterverhältnisse, etwa im Rahmen der # MeeToo-Kampagne oder der sich gegen Femi(ni)zide (geschlechtsbasierte Tötungen) richtenden Aktion #keinemehr. Ungeduld scheint vor dem Hintergrund unzureichender Fortschritte im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen adäquat zu sein.
Was ist also zu tun? Wie können hier kurz- und langfristig Täter gestoppt und Gewalt gegen Frauen beendet werden? Folgende sieben Punkte könnten, konsequent und flächendeckend eingeleitet, zu sichtbaren Veränderungen beitragen:

  1. Dürfen Staat und Gesellschaft nicht weiter hinnehmen, dass ein relevant großer Teil der von Gewalt betroffenen Frauen nicht zeitnah Schutz und Unterstützung, zum Beispiel in Frauenhäusern und Schutzwohnungen erhält. Immerhin handelt es sich um eine staatliche Aufgabe und grundlegende Verpflichtung, die körperliche Unversehrtheit und Sicherheit ihrer Bürger*innen konsequent zu schützen. Untersuchungen zeigen aber, dass etwa die Hälfte der von Gewalt betroffenen und in einem Frauenhaus Schutz suchenden Frauen nicht zeitnah dort aufgenommen werden können, weil zu wenig Platz und unzureichende personelle Kapazitäten den Alltag der Einrichtungen seit Jahrzehnten prägen. Dieser Zustand muss umgehend behoben werden – wie schnell dies gehen könnte, wenn der politische Wille vorhanden ist, zeigen auch die derzeit umfangreich fließenden staatlichen Gelder in anderen Problemfeldern im Zusammenhang mit der Corona Krise.
  2. In akut gefährlichen und bedrohlichen Gewaltsituationen muss von staatlicher Seite vor Ort konsequent interveniert und auf Schutz der Betroffenen hingewirkt werden, und zwar mit wirkungsvollen Methoden zur Verhütung von schwerer Gewalt und Tötungsdelikten an Frauen. Praxiserfahrungen und Studien zeigen etwa, dass von der Polizei unterstützte Notrufhandys und Apps mit Ortungsmöglichkeiten für Betroffene in Gefährdungs-, Stalking- und Trennungssituationen schwere Gewalt und fortgesetzte Bedrohungssituationen verhindern können. Sofortige, in Risikofällen einberufene multiprofessionelle Fallkonferenzen, wie sie etwa im Rheinlandpfälzischem RIGG-Projekt entwickelt wurden, tragen ebenfalls wirkungsvoll zum Abbau von Tötungsdelikten und schwerer Gewalt gegen Frauen bei.
  3. Hinzu kommen muss eine staatliche Praxis, die alle Täter häuslicher Gewalt konsequent zur Verantwortung zieht – durch Strafverfolgung und durch Maßnahmen, die auf eine Verhaltensänderung abzielen, wie sie auch im Rahmen der Täterarbeit entwickelt wurden. Dies ist bislang in Deutschland nur äußerst marginal der Fall, da die Täterarbeit völlig unzureichend ausgebaut und finanziert ist, und dadurch die Verursachenden der Gewalt regelmäßig nicht gestoppt werden – und oftmals Gewalt in der nächsten Beziehung fortführen. Bei häuslicher Gewalt muss Täterarbeit als Auflage obligatorischer Bestandteil der staatlichen Intervention sein (auch unabhängig davon, ob die Tat zugegeben oder geleugnet wird). Hinzukommen muss bei mutmaßlich schwer gewalttätigen Partnern die obligatorische Verpflichtung zu einem Väter- oder Elterntraining, bevor auch nur daran zu denken ist, gewalttätigen Partnern Umgangs- oder Sorgerecht zu gewähren und dadurch alle Betroffenen weiter zu gefährden. Wichtig ist dies gerade vor dem Hintergrund dass Kinder durch häusliche Gewalt zwischen den Eltern nachhaltig geschädigt und ohne Sanktionen der Taten zudem in ihrem Rechtsempfinden beeinträchtigt werden. Bei Zuwiderhandlungen gegen Gewaltschutzanordnungen wie Wegweisung und Näherungsverbot müssten darüber hinaus flächendeckend empfindliche Sanktionen erfolgen (von Führerscheinentzug – wie in Rheinland Pfalz bereits erfolgreich eingesetzt, bis hin zu Strafverfolgung, Haftstrafen und Sicherheitsverwahrung). Solche Maßnahmen der Täter- und Tatprävention können helfen, das Ausmaß von Gewalt gegen Frauen relevant zu vermindern.
  4. Ein weiterer wichtiger Punkt für gelingende Prävention besteht darin, Kinder in und nach Situationen häuslicher Gewalt intensiv zu unterstützen und zu begleiten und ihnen obligatorisch kurz- und langfristige psychosoziale Unterstützung zu geben. Nur so kann die intergenerationelle Vermittlung von Gewalt im Geschlechterverhältnis unterbrochen werden, denn Mädchen und Jungen, die Gewalt zwischen den Eltern erleben, sind nachweislich deutlich gefährdeter, im späteren Erwachsenenleben selbst Ausübende und/oder Betroffene von häuslicher Gewalt zu werden und diese in die nächste Generation weiterzutragen.
  5. Prävention häuslicher Gewalt bezog sich bislang noch kaum auf die sozialen Umfelder der Betroffenen, obwohl Dunkelfeldstudien zeigen, wie hoch relevant diese für den weiteren Verlauf der Unterstützungssuche und die Möglichkeit der Loslösung aus gewaltbelasteten Beziehungen sind. Präventionsmaßnahmen sollten deshalb verstärkt fokussieren auf Personen, die den Betroffenen und/oder den Tätern in Privatleben und Beruf nahestehen, um diesen Informationen über hilfreiche Umgangsweisen und Interventionen zu geben. Auch Nachbarschaftsprojekte wie etwa das STOPP-Projekt in Hamburg können einen wichtigen Beitrag zur Prävention häuslicher Gewalt leisten.
  6. Des weiteren müssen flächendeckend generalpräventive Projekte für Jungen, männliche Jugendliche und Männer implementiert und finanziert werden, um Geschlechtsidentitäten zu stärken, die nicht auf Dominanz, Abwertung Dritter und Gewalt beruhen. Zugleich sind flächendeckend Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungstrainings für Mädchen und Frauen sowie für besonders vulnerable Gruppen (LSBTI, Menschen mit Behinderungen und von heterosexistischen Normen abweichende Menschen) erforderlich, um den Täter-Opfer-Polarisierungen bei geschlechtsbezogener Gewalt entgegenzuwirken und alternative Verhaltensweisen zu stärken. Auch hierfür gibt es bereits erfolgreiche Ansätze, die jedoch in die breite Bevölkerung getragen werden müssen.
  7. Letzter weiterführender Punkt wäre die Förderung geschlechter- und gewaltkritischer Bildungsarbeit durch alle Institutionen hindurch, von Kita und Schule über Berufsausbildung und Studium bis hin zu Bildungsarbeit über Medien und in beruflichen/sozialen Kontexten. Dies umfasst auch die Unterstützung von Kampagnen und verschiedenen Formen kultureller Arbeit, die ein Bewusstsein für ungleiche Macht- und Geschlechterverhältnisse schaffen und deren Infragestellung und Überwindung befördern.

Alle diese Maßnahmen sollten, um Wirkungen und Wirksamkeit zu erhöhen, partizipativ und gemeinsam mit von Gewalt betroffenen Personen entwickelt, zumindest aber von diesen kritisch geprüft werden. Nur durch deren Beteiligung kann sinnvoll ermittelt werden, was als hilfreich und wirkungsvoll und was als kontraproduktiv oder wirkungsarm einzuordnen ist.
Wirkungsvolle Präventionsmaßnahmen umfassen die Bearbeitung und Veränderung gewaltbeeinflussender Faktoren. In Bezug auf Gewalt gegen Frauen konnten bereits vor 20 Jahren in einer Dissertation zu „Politik und Gewalt im Geschlechterverhältnis“ (Schröttle 1999) fünf gewaltbeeinflussende Faktoren staatlichen und gesellschaftlichen Handelns ermittelt werden:

  1. Normen und Normenvermittlung durch Staat und Gesellschaft
  2. Gesellschaftliche Kontrolle und staatliche Interventionsbereitschaft
  3. Geschlechterpolitik, geschlechtsspezifische Rollenerwartungen und Machtverteilungen
  4. Das Zusammenwirken von struktureller und individueller Gewalt.

Es wird Zeit, dass Deutschland und Europa in den nächsten Jahren im Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis relevant und messbar vorankommen. Dazu bedarf es einer versierten Strategie, die die vielfältigen Wirkungen staatlichen und gesellschaftlichen Handelns, die Betroffenenperspektive und den Zusammenhang unterschiedlicher Gewaltphänomene einbezieht. Zudem gibt die konsequente Umsetzung der auch von Deutschland ratifizierten Istanbul Konvention (dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) eine umfassende Strategie vor. Zentral wird deren Implementierung durch handlungsfähige Koordinierungsgremien unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft sein und die Prüfung der Umsetzung auf Basis eines wissenschaftsbasierten Monitorings, welches durch quantitative und qualitative Forschung Fortschritte, Kontinuitäten und Rückschritte messen und abbilden kann. Es bleibt abzuwarten, ob sich politische Entscheidungsträger*innen diesem Verfahren zur objektiven Prüfung der Folgen und Erfolge ihres Handelns stellen werden.

Dr. Monika Schröttle ist Leiterin der Forschungs- und Beobachtungsstelle Geschlecht, Gewalt, Menschenrechte (FOBES) am Institut für empirische Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Sie forscht und lehrt seit über 25 Jahren zu Gewalt im Geschlechterverhältnis und zu struktureller Ungleichheit, zum Beispiel im Kontext von Behinderung und Migration und besetzte Professuren in Braunschweig, Gießen und Dortmund. Sie koordiniert das European Observatory on Femicide sowie, zusammen mit Dr. Renate Klein, das European Network on Gender and Violence. Aktuell ist sie zudem mit der Gründung einer digitalen Internationalen Zukunftsuniversität beschäftigt.

 

Dr. Andreas Armborst

23. Zwischenruf: 15. Mai 2020

Erich Marks im Gespräch mit Dr. Andreas Armborst
„In Zukunft sollten wir besser auf eine Form der Kriminalprävention zu Zeiten eines Notstandes vorbereitet sein“

Heute ist Freitag, der 15. Mai 2020. Ich bin Erich Marks und als als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den international ausgewiesenen Soziologen und Kriminologen Dr. Andreas Armborst. Seit Gründung im Jahr 2015 leitet Herr Armborst das Nationale Zentrum Kriminalprävention (NZK), ein von der Bundesregierung finanzierter Fachdienst für Kriminalpolitik und Kriminalprävention mit Sitz in Bonn.

Herr Armborst, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Gewalt- und Präventionsarbeit Ihnen vor dem Hintergrund der Corona-Krise besonders wichtig erscheinen

Die COVID Pandemie ist ein Stresstest für unsere Gesellschaft.
Die erste Priorität in den vergangenen zwei Monaten galt natürlich der Eingrenzung dieser tödlichen Pandemie. Dafür mussten Bund und Länder zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen, die das private und öffentliche Leben fast aller Menschen gründlich auf den Kopf gestellt hat.
Die Herausforderungen für die Kriminalprävention rühren in erster Linie gar nicht so sehr aus der gesundheitlichen Bedrohung oder einem drohenden Staatszerfall, so wie man das aus Endzeitfilmen kennt. Der Kampf Aller gegen Alle ums nackte Überleben ist ausgeblieben, oder beschränkte sich bezeichnenderweise auf Klopapier.
Es sind eher die sekundären Folgen der Pandemie, die sich auf Kriminalität und Kriminalprävention auswirken. Die Pandemie verändert im großen Stil kriminelle Gelegenheitsstrukturen, d.h. wer, wann, wo, wie oft und in welcher Situation aufeinandertrifft.
Ganz alltägliche Gegenstände, wie Desinfektionsmittel und Atemmasken werden plötzlich zu begehrter Schwarzmarktware.
Ladendiebstähle, Wohnungseinbrüche und Gewalt im öffentlichen Raum gehen zurück dafür steigen vielleicht Betrugsfälle, Fälle häuslicher Gewalt und Fälle von Kindesmissbrauch.
Wir können gerade die Theorien aus der Kriminologie, wie z.B. die Situational Action Theory oder Situational Crime Prevention, live mitverfolgen.
Und diese Beobachtungen zeigen uns auch ganz deutlich die Grenzen dessen auf, was wir mit Kriminalprävention überhaupt erreichen können. Hier wirken gerade ganz andere gesellschaftliche Kräfte. Vielleicht stellt sich heraus: Homeoffice ist der beste Einbruchschutz. Homeoffice ist wirksamer als alle Maßnahmen gegen Wohnungseinbruch zusammengenommen.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir in der Prävention die Füße hochlegen sollen.
Durch COVID-19, bzw. durch die staatlichen Maßnahmen zu dessen Eindämmungen, treten außerdem alte Herausforderungen im Bereich der politisch motivierten Kriminalität heute noch stärker in den Vordergrund. Zu den Problemen zählen der Glaube an Verschwörungstheorien, politischer Zynismus und Extremismus. Auch hier zeigt sich, wie schnell z.B. die politische Bildung angesichts ungewöhnlicher Ereignisse an ihre Grenzen gerät.

Was ist in diesem Zusammenhang die Rolle des Nationalen Zentrums Kriminalprävention?
Das NZK steht für die Idee der sogenannten Evidenzbasierten Prävention. Evidenzbasiert bedeutet, dass die Wirkung einer Präventionsmaßnahme durch Evaluationsstudien wissenschaftlich belegt ist.
Zusammen mit dem Deutschen Städtetag haben ganz aktuell eine Broschüre mit ganz konkreten Empfehlungen herausgegeben, wie Kommunalpolitiker und Verwaltungsangestellte mit Hass und Bedrohung umgehen können. Gerade jetzt wo der Frust bei vielen Menschen über Einschränkungen und Kontaktverbote verständlicherweise sehr groß ist, kann es wieder verstärkt zu Anfeindungen gegen Kommunalpolitiker, Rettungskräfte und Verwaltungsangestellte kommen. Selbst medizinisches Personal wird zur Zielscheibe von Hass und Bedrohung. Unsere Broschüre enthält polizeiliche Empfehlungen, Angebote für psychologischen oder juristischen Beistand, und Möglichkeiten Hasskommentare im Internet löschen zu lassen.
Das NZK erstellt außerdem gerade einen aktuellen Bericht, der zeigt welche Ansätze zur Prävention von sexuellen Kindesmissbrauch eine nachweisbare Wirkung für den Schutz von Kindern haben. Die schlechte Nachricht vorweg: viele der Strukturen und Angebote zum Schutz von Kindern gegen sexuelle Gewalt fallen gerade weg. Was man im Moment tun kann, ist im eigenen Umfeld auf auffällige Veränderungen bei Kindern zu achten, und Kindern in einem geschützten Raum die Möglichkeit geben sich anzuvertrauen. In manchen Fällen kann die „Nummer gegen Kummer“ helfen 11-61-11.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
 Die vorherigen DPT Zwischenrufe sind ja schon auf viele der akuten Herausforderungen für die Kriminalprävention eingegangen.
Mein Anliegen ist es, dass wir uns in Zukunft besser auf eine Form der Kriminalprävention zu Zeiten des Notstandes vorbereiten. Das heißt, dass wir für verschieden Präventionsbereiche konkrete Kontingenzpläne in der Hinterhand haben, die zeigen wie die langfristigen Ziele der Kriminalprävention auch dann weiterverfolgt werden können, wenn wichtige Instanzen der Prävention auf einmal komplett ausfallen.
Herr Armborst, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Nationales Zentrum Kriminalprävention (NZK)

Monika Kunisch

22. Zwischenruf: 12. Mai 2020

Erich Marks im Gespräch mit Monika Kunisch
„‚All hands on Deck‘ - das Netzwerk der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention in MV ist sichtbar und aktiv“

Hintergrundinformationen zum DPT-Zwischenruf der Geschäftsführerin des Landesrates für Kriminalitätsvorbeugung in Mecklenburg-Vorpommern, Monika Kunisch, am 12. Mai 2020.
 „All hands on Deck“ – das Netzwerk der gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention in MV ist sichtbar, aktiv und gerade jetzt Anker für mehr Sicherheit in Zeiten von Corona!“

Der Landesrat für Kriminalitätsvorbeugung Mecklenburg-Vorpommern (LfK) gehört zu den ältesten Landespräventionsgremien in der Bundesrepublik. Zu seinen Besonderheiten zählen die ausgesprochen großen Mitwirkungs- und somit auch Mitgestaltungs-möglichkeiten, die er den vielen nichtstaatlichen Akteuren der Präventionsarbeit bietet. Die Hauptbotschaft unseres Slogans „Gemeinsam für mehr Sicherheit“ und damit das Grundverständnis des LfK war von Beginn an, dass die Vorbeugung und Verhinderung von Kriminalität in all ihren Erscheinungsformen und die Reduzierung ihrer Auswirkungen wirklich nachhaltig nur gelingen kann, wenn sie nicht nur als isolierte Aufgabe einzelner staatlicher Einrichtungen verstanden wird.
Und genau diese Vielfalt der Akteure und ihre Wirkungskraft zeigen sich in der Krisenzeit der Corona-Pandemie. Wie sagt man so treffend im Norden: In der Seefahrt heißt es „All hands on Deck“, wenn es die Lage erfordert.

Welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit erscheinen aktuell besonders wichtig?

Als Geschäftsführerin bin ich in Vorbereitung des Zwischenrufs auf die einzelnen Arbeitsgruppen des LfK zugegangen. Denn nur dort erfährt man von den  Problemen, den Fragen und möglichen Antworten auf die aktuelle Situation: Kommunale Prävention, Opferschutz,  Seniorensicherheit, Extremismus, Jugendkriminalität, Sport und Gewaltprävention – das sind u.a. die Arbeitsfelder der Arbeitsgruppen des LfK in Mecklenburg-Vorpommern.

Zentrale Punkte meines Anliegens für den Zwischenruf:
Herausforderungen für die Präventionsarbeit ergeben sich für das Netzwerk der gesamtgesellschaftlichen Prävention insbesondere in den folgenden Themenfeldern:

Kommunale Prävention und Opferschutz: Häusliche Gewalt, Kinderschutz und Seniorensicherheit

Seit vielen Jahren engagieren sich die örtlichen Akteure in den Landkreisen und Kommunen mit großem Einsatz im Bereich Häusliche Gewalt, ob in den Interventionsstellen, Frauenhäusern, Polizei Gewaltschutzambulanzen und Opferschutzinstitutionen. Sie wollen Betroffenen helfen, Opfer schützen, präventive Arbeit leisten und die polizeiliche Arbeit unterstützen, das große Dunkelfeld zu verkleinern. In Zeiten der Corona Pandemie wird die Arbeit der Institutionen und Vereine auf Grund der Kontaktbeschränkungen deutlich erschwert. Erst Mittwoch sind die Kontaktbeschränkungen in dem gemeinsamen Beschluss der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten der Länder bis in den Juni 2020 hinein verlängert worden.
Die täglich in Mecklenburg-Vorpommern erhobenen Zahlen belegen, dass ein Anstieg der Häuslichen Gewalt in der polizeilichen Statistik festzustellen ist. Die Frauenhäuser und Fachberatungsstellen stehen in der Corona-Krise unter Druck. Die direkte, persön-liche Beratungssituation ist in Zeiten von Kontaktsperre und Infektionsschutzauflagen nur unter erschwerten Bedingungen umzusetzen. Zudem sind die Kapazitäten von Frauenhäusern oftmals durch Quarantänemaßnahmen reduziert. Die Frauenhäuser und Fachberatungsstellen sind wichtige Einrichtungen, um Frauen und Kindern zu helfen, die häusliche Gewalt erfahren. Auch und gerade in der Corona-Krise muss diese Arbeit gesichert werden. Den Beschäftigten muss andererseits der Zugang zur Notfallbetreuung für ihre Kinder gesichert werden und sie müssen die notwendige Infektionsschutzausstattung bekommen.

Wie sehr sich die Lage in den eigenen vier Wänden in den vergangenen Wochen verschärft hat, wissen wir in vollem Ausmaß womöglich erst nach Ende der Krise. Alle Expertinnen und Experten erwarten dann eine vermehrte Beanspruchung von Hilfs- und Beratungsangeboten. Häufig melden sich Betroffene erst mit einer Verzögerung. Darauf muss das Netzwerk vorbereitet sein.

Kinderschutz: Von der Leiterin der Opferschutzambulanz in Greifswald kommt im Gespräch ein wichtiges Signal: Die Konzeption der Opfer- und Gewaltschutzambulanz als Teil des Opferschutz-Netzwerkes hat sich bewährt. Die Zuweisungen erfolgen auch in Zeiten von Corona durch das Netzwerk – seien es Jugendämter, Polizei, Interventionsstellen oder Frauenhäuser. Es ist kein Einbruch des Hilfenetzwerks festzustellen. Aber – und das ist beunruhigend: die Zahl der zugewiesenen Kinder ist zurückgegangen. Gründe liegen auf der Hand: die Schutzeinrichtungen wie Kita, Hort oder Schule können ihr wachsames Auge seit Wochen nicht auf ihre Schützlinge richten. In normalen Zeiten entdeckt die Erzieherin in der Kita blaue Flecken, oder die Lehrerin kann eine Verhaltensänderung ausmachen. Es gibt auch keinen Kontakt zu Freunden, die ihren Eltern berichten, dass der beste Freund daheim verprügelt wird. Solche Kontrollmechanismen fallen jetzt weg.
Auch für die Jugendämter hat sich der Kontakt zu den Risikofamilien erschwert. Die  Hausbesuche bei Familien sind wegen der Corona-Krise stark reduziert. In der Regel sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur noch in Notfällen, bei akuter Kindeswohlgefährdung, im Außendienst. Statt der sonst üblichen Hausbesuche versuchen die Sozialarbeiter, über Telefon, E-Mail oder Videochats mit gefährdeten Familien Kontakt zu halten. Um den Infektionsschutz zu wahren, finden Treffen teilweise draußen statt. Von vielen Seiten, so vom Kommunalen Präventionsrat Greifswald-Vorpommern erfährt man: in der Corona-Krise ist der Druck im Kessel bei vielen Familien hoch, die Nerven liegen blank.
Ein gutes Beispiel für pragmatische Präventionsarbeit leistet der Präventionsrat des Landkreises Rostock Land. Die Gleichstellungsbeauftragte und zuständige Kollegin für die Kriminalprävention im Landkreis Rostock hat mit ihrer Info-Post eine Sonderausgabe versendet. Sie beinhaltet:

  • Eine Übersicht über die Beratungs- Hilfsangebote, die aktuell landkreis- und bundesweit angeboten werden, damit Familien, Paare oder Personen diese in besonderen oder auch kritischen Situationen schnell und unkompliziert nutzen können.
  • Das Landeskriminalamt MV gibt Tipps, wie sich Betroffene und ihre Angehöri-gen vor den Betrügereien an der Haustür, am Telefon und im Internet schützen können, denn die Kriminellen passen aktuell ihre Betrugsmaschen an.

Das Telefon steht kaum still, so die Präventionsbeauftragte des Landkreises Rostock. Regelmäßig kommen Anrufe von Perso­nen, die Hilfe und Unterstützung zur Bewältigung von Krisen benötigen oder einfach mal mit jemanden außerhalb der Familie reden möchten. Sie berät als ausgebildete Psychologische Konfliktberaterin,  vermittelt aber auch die notwendige Un­terstützung. Vor diesem Hintergrund ist und war es ihr ein Anliegen, eine Sonder­ausgabe der Info-Post zu versenden. Sie macht aufmerksam auf Hilfsan­gebote, die landkreis- und bundesweit angeboten werden, weitergegeben werden können, damit sie bekannter und vermehrt genutzt werden.
Das bedeutet: Die Präventionsangebote sind nach wie vor da, präsent und können – wenn auch in abgewandelter Form – in Anspruch genommen werden!
Ob Kontaktadressen, Erreichbarkeiten des Hilfenetzwerkes (z.B. Interventionsstellen oder Jugendmigrationsdienst mit Hinweis auf Videoberatungen), Möglichkeiten der Onlineberatung von Opferhilfeeinrichtungen, Tipps im Falle von Bekanntwerden Häuslicher Gewalt, Verhaltensempfehlungen für Betroffene oder auch Zeugen: Die Info-Post enthält hierzu umfassende Informationen. Ganz aktuell dazu gibt es Tipps des Landeskriminalamtes zu Betrug an der Haustür, am Telefon oder im Internet.
Seniorensicherheit: Gerade für die Seniorinnen und Senioren zeichnen sich in der Corona-Krise wachsende Gefahren ab. Durch fehlende Kontakte, Ausfall von  Familienbesuchen und Seniorenveranstaltungen sind viele Seniorinnen und Senioren zunehmend einsam (noch mehr als zuvor) und „freuen“ sich über telefonische Kontakte oder „spontane“ Besuche an der Haustür.
Kriminelle haben „ihre Betrugsmaschen“ in Anlehnung an Enkeltrick und „Falschen Polizeibeamten“ schnell an die Corona-Krise angepasst: Der Betrug durch Täter mit weißen Anzügen und Mundschutz an Wohnungstüren, die sich als Mitarbeiter des Gesundheitsamtes ausgeben, um in die Wohnung der oft älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger zu gelangen. Oder das Anbieten vermeintlicher (natürlich kostenpflichtiger) Coron­a-Tests. Das Landeskriminalamt (LKA) und die Präventionsräte weisen auf die verschiedenen Betrugsmaschen hin. Das LKA gibt Verhaltenstipps, damit keiner zum Opfer wird und Informationen zum Betrug im Internet, zu Fakeshops, die beispielsweise Atemschutzmasken oder Desinfektionsmittel anbieten. Gibt Antworten auf Fragen, wie man solche Fakeshops erkennt. Und Hinweise zu neuen Versionen des Phishings.
Grundlegende Werte, wie Empathie, Zusammenhalt, Vertrauen und Solidarität können durch solche Taten nachhaltig Schaden gerade bei älteren Menschen nehmen, weshalb es umso wichtiger ist, den Präventionsgedanken nicht aus den Augen zu verlieren und die Sicherheitsgedanken  in den Fokus zu rücken.

Die Präventionsräte setzen sich ein und fordern: Kampagnen gegen den Enkeltrick in allen Facetten müssen dringend weitergeführt werden. Viele ältere Menschen müssen dort abgeholt werden, wo sie präsent sind, zu Hause vor dem Fernsehgerät, Radio, Internet oder in sozialen Netzwerken.

So werden beispielsweise Ideen im Landkreis Ludwigslust/Parchim entwickelt, kurze Texte/Spotts auch für das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu entwickeln, um vor den „neuen Gefahren“ zu warnen: Aufklärende Kurzfilme zu Handlungen und Begehungsweisen Krimineller an der Haustür, am Telefon und im Internet für das Fernsehen und das Internet, aufklärende Wortbeiträge für das Radio, Filmsequenzen auf Facebook und im Internet als Internetticker oder Flyer zur Verteilung über die Kleingartenvereine, bzw. kurze aussagekräftige Aushänge für den Schaukasten in dörflichen Gegenden.

Das als Beispiele von vielen präventiven Vorhaben im Land dargelegte Engagement des Präventionsrates des Landkreises Rostock oder des Landkreises Ludwigslust-Parchim zeigen aber auch: Ihre Arbeit ist das Herzstück der Präventionsarbeit. Rund 50 kommunale Präventionsräte in allen sechs Landkreisen und den beiden kreisfreien Städten und in vielen weiteren Städten und Gemeinden bündeln in Mecklenburg-Vorpommern die Kompetenzen und Ressourcen zahlreicher staatlicher und nicht-staatlicher Akteure.Dieses Engagement bewährt sich nun in der Corona-Krise.
Prävention und Kriminalitätsbekämpfung lebt nicht nur von den Fallzahlen, Maßnahmen und Einsatz der Akteure, sondern zeigt sich im  gesamtgesellschaftlichen Verhalten!
Ein (vorläufig) positives Résumé konnte der Kommunale Präventionsrat des Landkreises Vorpommern-Greifswald ziehen. Immer stärker verfestigt sich das Bild des gemeinsames Handels und der Unterstützung in dieser Krisenzeit! Eine Gesellschaft rückt trotz Distanzgebot wieder näher zusammen. Wenn dieser gute Flow auch weiterhin am „Leben erhalten“ werden könnte, schaffen wir es auch nach der Corona-Krise, manches Problem hinsichtlich der Kriminalitätsbekämpfung besser, schneller und leichter zu lösen!

Extremismus

Rechtsextremismus: Die Corona-Krise findet in der rechtsextremistischen Szene des Landes eine große Resonanz. Hiesige Rechtsextremisten versuchen gezielt, diese Ausnahmesituation für sich zu nutzen. Die Pandemie wird zum Anlass genommen, um die Bundesregierung in hetzerischer Art zu kritisieren, z.T. antisemitische Verschwö-rungstheorien zu verbreiten und Migranten als Überträger des Virus zu stigmatisieren. Gefordert werden unter Hinweis auf das Jahr 2015 ein konsequenter Schutz der Grenzen sowie eine Rückbesinnung auf nationale Wirtschaftskreisläufe. Die „Europäische Union“ wird als handlungsunfähig und irrelevant dargestellt. Aufgerufen wird zur Selbst- und Nachbarschaftshilfe sowie zu Vorsorgeaktivitäten.

Beunruhigend ist das Zeichnen von Untergangsszenarien, die mit Vorstellungen eines radikalen Wandels von Staat und Gesellschaft im Sinne der eigenen Ideologie verbunden werden. Dabei glaubt die Szene, dass sie mit ihren extremistischen Positionen aktuell Zustimmung in einer durchaus verunsicherten Bevölkerung erzeugen kann.

Linksextremismus: Für linksextremistische Gruppen ist der Kapitalismus Schuld an den Auswirkungen der Corona-Pandemie. Auf einschlägigen Internetseiten und in den sozialen Medien kritisieren sie u.a. das angeblich rein profitorientierte Gesundheitssystem und die staatlichen Maßnahmen, die für den Gesundheitsschutz getroffen wurden. (Die meisten) Linksextremisten bestreiten weder die Gefahr, die vom Virus ausgeht, noch lehnen sie Schutzmaßnahmen grundsätzlich ab. Doch die geltenden Einschränkungen werden von ihnen als unverhältnismäßige Repressionen eines autoritär agierenden Staates kritisiert, die letztlich vor allem dem Schutz des kapitalistischen Systems zu dienen bestimmt sind und denen es sich zu widersetzen gelte. In vielen Beiträgen wird zu Solidarität mit Risikogruppen oder besonders Benachteiligten, z.B. Obdachlosen oder Flüchtlingen, aufgerufen. Da interne Treffen und Veranstaltungen derzeit unmöglich sind, stellt sich auch für linksextremistische Gruppen die Frage, wie sie sich nun organisieren, ihre Standpunkte wirksam in die Öffentlichkeit tragen und dabei Gesundheitsschutz für alle Mitwirkenden gewährleisten können.

Mehr noch als zuvor stellen sich dem Landesberatungsnetzwerk Demokratie und Toleranz MV, in dem der Landesrat für Kriminalitätsvorbeugung Partner ist, unter anderem folgende Fragen:

  • Wie kann die Präsenz des Beratungsnetzwerkes im digitalen Raum verstärkt werden, um die Sichtbarkeit der Mitglieder des Netzwerkes als Expertinnen und Experten im Themenfeld zu erhöhen?
  • Wie kann ein koordinierter Beitrag der vorhandenen Netzwerk-Strukturen und Akteure zu den aufgezeigten Problemfeldern in den digitalen Sphären geleistet werden? Ob bei Facebook, Instagram oder Twitter?
  • Wie können zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure bei den aktuellen Diskussionen durch die Bereitstellung von Materialien unterstützt werden?

Primär im Internet und in den Sozialen Medien gilt es auf extremistische und demokratiefeindliche Strömungen zu reagieren, die die Krise nutzen, um Ängste und Unsicherheit durch Fake News zu stärken und ihre Verschwörungstheorien mit der Corona-Krise verbinden. Wichtig ist zu kommunizieren, dass in der Ausnahmesituation eine demokratische Debatte über Handlungsoptionen möglich bleibt. Der Begriff der Solidarität gewinnt an Bedeutung. Was verbirgt sich konkret dahinter, wie wird dieser Begriff (künftig) gefüllt?

Sport und Gewaltprävention/Jugendkriminalität

Abschließend noch einige Gedanken zu den Bereichen Sport und Gewaltprävention und Jugendkriminalität in Zeiten von Corona.

Bis vor wenigen Wochen haben wir uns in der AG Sport- und Gewaltprävention intensiv Gedanken über den Umgang mit Gewalt im Amateurfußball gemacht. Angriffe gegen Schiedsrichter oder Trainer oder rassistische Vorfälle durch sogenannte Fangruppen diskutiert. Jetzt sind (aktuell) die Fußballstadien dicht, es finden keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr statt. Die Corona-Krise als Chance? Nein, eine solche Überlegung kann man höchstens mit einem Schmunzeln versehen.
Sportvereine sind landesweit wichtige Partner im System der gesamtgesellschaftlichen Gewalt- und Kriminalitätsvorbeugung. Insbesondere im Kinder- und Jugendbereich leisten die Sportvereine einen hervorragenden Beitrag für eine gewaltfreie Erziehung, indem sie solche sportspezifischen Tugenden wie Fairness, Respekt, Regeltreue und Achtung des Gegners in das Zentrum ihres Trainings- und Wettkampfbetriebes stellen. Darüber hinaus engagieren sich viele Sportvereine in ihren Heimatorten sehr aktiv in Netzwerken und Projekten für Gewaltprävention.

Was uns Sorgen macht, ist zum einen die Frage: Wie viele Sportvereine, Fußballvereine geraten in eine finanzielle Schieflage, werden sie überleben? Auch wenn es von der Landespolitik gute Nachrichten gibt, dass die Landesregierung den Sportvereinen bis zu 3,5 Millionen Euro Strukturhilfe für die Milderung der Folgen der Corona-Pandemie zur Verfügung stellen möchte, bleibt zum anderen die Frage: Rückt Gewaltprävention jetzt vielleicht an zweite oder dritte Stelle?

Haben die Ansprechpartner für die Prävention derzeit andere Sorgen als Gewaltprävention?! Hierauf ein spannendes „Jein“: Der Landesfußballbund MV beispielsweise berichtete, dass in der Corona-Krise zunächst die wesentlichste Aufgabe darin bestand, den Kontakt mit den Sportlern und Trainern durch die ausblei-benden direkten Kontakte (z.B. Staffelleiter, Vereine untereinander, Schiedsrichter) nicht abreißen zu lassen und eine fruchtbare Kommunikation aufrecht zu erhalten. Kreisdialoge und Vorstandstreffs als direktes Ohr an den Vereinen konnten nicht mehr umgesetzt werden.

Aber … schnell rückte auch die Prävention wieder in den Fokus: Nach einer kurzen Umstellungsphase wird jetzt das Ziel verfolgt, die Kontakte zu den Vereinen direkt telefonisch zu suchen und Beratungsangebote wie Gewaltpräventionsmaßnahmen digital vorzuhalten. Dazu werden unterstützend Webinare angeboten und die Bedarfe der Vereine per Telefoninterview erfasst. Das Thema "e-football" wird als zusätzliches Vernetzungsinstrument im Gebiet des Landesfußballverbandes MV installiert und getestet. Die Vereine organisieren Ordnerschulungen zur Gewaltprävention. Darüber hinaus begleiten sie Vereine bei der Stärkung ihres Social-Media Auftrittes, um den Verein mit ihren Mitgliedern stärker zu vernetzen. Ein digitaler Schiedsrichter-Schnupperkurs sensibilisiert Jugendliche (14-19 Jährige) mit den Themen Entscheidungsfindung, Regelkenntnis und Umgang mit Schiedsrichtern auf dem Feld.

Es zeigt sich schon jetzt, dass die gute Netzwerkarbeit vor Ort und für die Kriminalprävention durch die langjährigen Verbindungen zwischen Sport und Gewaltprävention auch und gerade in Zeiten der Corona-Krise fester Bestandteil des Handelns ist.

Kurze zusammenfassende Aussage zum Zwischenruf:
Mein Fazit als Geschäftsführerin des Landesrates für Kriminalitätsvorbeugung in Mecklenburg-Vorpommern nach gut zwei Monaten Corona-Krise:
Gleich in welchem Bereich der Kriminalprävention: das Netzwerk der gesamtgesell-schaftlichen Kriminalprävention in MV mit Unterstützung der polizeilichen Prävention steht und hält eine solche Krisenzeit aus.  Aber nicht nur das. Durch die vielfältigen Akteure, die sich der Prävention verbunden fühlen, werden Kräfte wach, werden neue Wege beschritten, um zu demonstrieren: Wir sind da, wir sind sichtbar, wir sind aktiv und versuchen, ob im Opferschutz, im Extremismus oder Sport- und Gewaltprävention uns mit aller Kraft für die Gewaltprävention einzusetzen.
Ein gutes Netzwerk hält gerade in solchen Zeiten zusammen. Videokonferenzen, die Nutzung von Social Media rücken derzeit für Austausch und Kommunikation in den Vordergrund. Aber: Sorgen bereitet der Kinderschutz! Die Corona-Krise und ihre Folgen werden wir für die Kriminalprävention auswerten müssen.
Zu guter Letzt ein Wunsch: Prävention sollte auch Bestandteil von Krisenstäben werden.

Monika-Maria Kunisch
Geschäftsführerin des Landesrats für Kriminalitätsvorbeugung
Mecklenburg-Vorpommern: http://www.kriminalpraevention-mv.de/

Landesweites Beratungsnetzwerk Demokratie und Toleranz https://www.beratungsnetzwerk-mv.de

Jörg Jesse

21. Zwischenruf: 05. Mai 2020

Erich Marks im Gespräch mit Jörg Jesse
„Vergessene Kinder oder: „Not my crime but my sentence““

Heute ist Dienstag, der 5. Mai 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Jörg Jesse. Herr Jesse war seit 2003 als Ministerialdirigent im Justizministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern für den Strafvollzug und die Bewährungshilfe verantwortlich und ist Mitglied zahlreicher einschlägiger Gremien und Ausschüsse des Europarates in Straßburg.

Herr Jesse, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Ich möchte heute eine Gruppe in den Fokus rücken, die meines Erachtens hochgradig relevant für die Prävention ist, jedoch kaum Beachtung findet: Die Kinder von Inhaftierten.
Weder gibt es ein verbreitetes Wissen über die Anzahl dieser Kinder, noch ein ausgeprägtes Bewusstsein darüber, mit welchen Problemen sie zu kämpfen haben und welche Bedeutung diese Aspekte für Prävention im Allgemeinen und für Kriminalprävention im Speziellen haben. Konkreter gesprochen: Es ist beschämend, wie wenig - von bewundernswerten Initiativen freier  Träger abgesehen - die großen Schwierigkeiten dieser Kinder als offensichtliches Feld für Prävention erkannt wurden, obwohl diverse staatliche Institutionen, u.a. Kindergarten, Schule, Sozial-, Familien- und Jugendhilfe, Polizei, Strafjustiz, Justizvollzug und Bewährungshilfe mit ihnen bzw. ihren Eltern im Kontakt stehen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Ich möchte in diesem Beitrag die Wahrnehmung der Fachöffentlichkeit auf eine große Gruppe von Kindern in unserem Land lenken, die unter der Inhaftierung eines Elternteils extrem leiden und die meines Erachtens viel stärker in den Fokus vielfältiger und gut koordinierter Präventionsmaßnahmen rücken sollten. Hier handelt es sich um eine Hochrisikogruppe mit einer deutlich erhöhten Lebenszeitprävalenz für psychiatrische und Suchterkrankungen, oft aus einem Multi-Problem-Milieu, die mit der Bewältigung vieler neuer Problemlagen nicht nur in ihrer Familie konfrontiert sind. Teilweise müssen sie Verantwortung und zusätzliche Aufgaben übernehmen, die nicht ihrem Entwicklungsstand entsprechen, sie sind gezwungen, kleine Helden wider Willen zu werden. Es versteht sich von selbst: Dies ist ein Idealfeld für Prävention, hier ist ein gut koordiniertes Hilfs- und Unterstützungssystem notwendig.

Welche spezifischen Probleme sehen Sie hier?
Wir reden über 100 000 Kinder in Deutschland, d.h. auf sechs Gefangene kommen 10 Kinder
75% von ihnen berichten über negative psychische und physische Folgen der Inhaftierung,
25%    schätzen sich als psychisch labil ein
Geschildert und beobachtet werden erhöhte Emotionalität, Hyperaktivität, Probleme mit Gleichaltrigen, Schlafprobleme, Bauch- und Kopfschmerzen, Aggression und Autoaggression, Suizidalität, Misstrauen, Schuldgefühle, Entwicklungsverzögerungen, Leistungsabfall im Unterricht und Schule schwänzen

Die Inhaftierung eines Elternteils ist häufig mit finanziellen Einschränkungen verbunden
Der Wegfall einer Vertrauensperson geht mit einem Bruch in der Vertrauens- und Selbstvertrauensbildung einher
Zudem wird die Inhaftierung oft zu einem Familiengeheimnis zu Lasten der Kinder verbunden mit Ausgrenzung und Legendenbildung
Und last but not least: Für diese Kinder besteht ein erhöhtes Risiko selbst (25% von ihnen) straffällig und inhaftiert zu werden
Um den Kindern und ihren Familien zu helfen, ist ein multiprofessionelles, fachgebiets- und ressortübergreifendes Vorgehen aller betroffenen staatlichen Stellen im Zusammenwirken mit freien Trägern notwendig.
Die Grundlagen dafür sind vorhanden, sie finden sich in der UN-Kinderrechtskonvention, den Empfehlungen des Europarats und dem sich daraus ergebenden einstimmigen Beschluss der Justizministerkonferenz.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Einhunderttausend Kinder in Deutschland bedürfen dringender Hilfe. Ihre Problemlagen sind umfassend. Sie sind unschuldig in diese Situation gebracht worden und das schwächste Element bei der Bewältigung der Folgen der Straffälligkeit und Inhaftierung eines Elternteils. Wenn wir von der Dimension dieser Probleme wissen und internationale Regelungen zum Umgang mit der Problematik vorhanden sind, die im einstimmigen Beschluss der Justizministerkonferenz anerkannt wurden, ist es Zeit schnellstens zu handeln.

Herr Jesse, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

 

Prof Dr. Helmut Fünfsinn

20. Zwischenruf: 30. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof Dr. Helmut Fünfsinn
„Neue Herausforderungen für die Präventionsarbeit in Zeiten der COVID-19-Pandemie“

Heute ist Donnerstag, der 30. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Dr. Helmut Fünfsinn. Herr Fünfsinn ist Vorsitzender des Hessischen Landespräventiosrates und Beauftragter der Hessischen Landesregierung für die Opfer von Terroranschlägen und schweren Gewalttaten. Im Hauptamt war Herr Professor Fünfsinn über Jahrzehnte in verschiedenen Leitungspositionen der Hessischen Justiz tätig, zuletzt als Hessischer Generalstaatsanwalt.

Herr Fünfsinn, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Herausforderungen für die Präventionsarbeit ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Die aktuell für die Eindämmung der Pandemie notwendigen Maßnahmen der Kontaktreduzierung gehen mit einer Erhöhung von psychosozialen Belastungsfaktoren für die Bevölkerung einher. Häusliche Isolation, Sorgen um Gesundheit und Beruf, finanzielle Nöte, fehlende Kinderbetreuung, steigender Alkoholkonsum, das Fehlen von sozialer Unterstützung und viele weitere Aspekte können zu einer Verschärfung von Konflikten führen. Konfliktreduzierende Faktoren, wie etwa eine räumliche Distanzierung, die zu einer Unterbrechung eskalierender Dynamiken führen können, sind derzeit kaum oder nur sehr eingeschränkt gegeben. Die COVID-19-Pandemie und die damit verbundenen erheblichen Einschränkungen für die Bevölkerung (Kontaktverbote, Quarantäne etc.) stellen daher auch an die Präventionsarbeit neue Anforderungen. Eine abgestimmte, ressortübergreifende Präventionsarbeit unter Einbindung aller relevanter Akteure - auch auf kommunaler Ebene -  mit dem Ziel, wirksame Maßnahmen zu entwickeln, ist in solchen Zeiten wichtiger denn je. Es bedarf jetzt phantasiereicher und intelligenter Lösungen, um besonders vulnerable Gruppen, wie Kinder, Frauen und ältere Menschen, die besonders stark von der derzeitigen Situation betroffen sein dürften und unter ihr leiden, zu unterstützen.

Was ist das zentrale Anliegen bzw. die zentralen Punkte Ihres heutigen Zwischenrufs?

  1. Kinderschutz:
    Insbesondere der Kinderschutz sollte in der aktuellen Präventionsarbeit eine ganz maßgebliche Rolle spielen: In vielen Diskussionen entstand zunächst der Eindruck, die Belange von Kindern würden nicht in ausreichendem Maße Berücksichtigung finden. Natürlich musste und muss es auch jetzt in erster Linie darum gehen, die Verbreitung des Corona-Virus einzudämmen und Menschenleben zu schützen. Aber eine so rigorose Einschränkung des öffentlichen Lebens, wie wir sie derzeit erleben, birgt Risiken und kann negative Auswirkungen auf Familien und speziell für Kinder zur Folge haben. Denn mit der Zeit werden die Belastungen schwerer, Spannungen nehmen zu. Die aktuellen Lebensbedingungen in vielen Familien können aggressionsauslösend wirken und in ohnehin bereits dysfunktionalen Familienstrukturen die Anwendung von Gewalt jeglicher Form zusätzlich triggern. Wenn es um Lockerungen geht, sollten daher unbedingt auch hier schrittweise Erleichterungen erwogen werden, um den Familien eine Perspektive zu eröffnen. Gesundheitsschutz muss zweifelsohne eine hohe Priorität genießen - aber eben auch das Kindeswohl. Denn Kinderschutz ist langfristig auch Gesundheitsschutz. Viele Kinder leiden gerade sehr, da sie wenig Bewegungsmöglichkeiten haben, nicht auf den Spielplatz dürfen, ihren Sport im Sportverein nicht ausüben dürfen, keine Freunde treffen, Oma und Opa nicht besuchen dürfen. Gerade in großen Städten, wo die Wohnverhältnisse oft sehr beengt sind, kann sich das extrem belastend auswirken. Die psychosozialen Stressoren in den Familien sind dann erhöht und können eine Steigerung des Gewaltrisikos bedingen. Die starke Einschränkung der sozialen Kontrolle und der persönlichen Schutzräume (Arbeit, Schule, Betreuung, Hilfeeinrichtungen) führen wiederum zu einem geringeren Entdeckungsrisiko. Die Meldung eines gewalttätigen Übergriffs bzw. der Kontakt zu Hilfeeinrichtungen kann zudem erschwert sein, da Telefonanrufe aufgrund der permanenten räumlichen Nähe gar nicht geführt werden können. Oder es wird von den Betroffenen aufgrund von Angst vor einer Ansteckung keine medizinische oder psychosoziale Hilfe aufgesucht.
    Prof. Dr. Maud Zitelmann hat als Mitglied der Arbeitsgruppe Kinderschutz des hessischen Landespräventionsrats in einem an das zuständige Fachreferat im Hessischen Ministerium für Soziales und Integration gerichteten Schreiben auf die heikle Situation von gefährdeten Kindern und Jugendlichen aufmerksam gemacht, auch im Hinblick auf die Gefahr einer Zunahme von häuslicher und sexualisierter Gewalt. Sie äußerte ihre Sorge vor allem wegen der Isolation der Kinder in den Familien sowie der deutlichen Absenkung fachlicher Standards in der Jugendhilfe infolge der Corona-Krise. Die zentrale Aussage Ihres Schreibens: Kinderschutz muss systemrelevant sein. Ambulante Hilfen für Familien und die Schulbegleitung dürften nicht unter pauschalem Verweis auf die Gefährdung der Allgemeinbevölkerung eingestellt werden. Die Besuche durch sozialpädagogische Familienhelfer/-innen dürften nicht wie vielerorts ausbleiben, sondern müssten sogar intensiviert und unter Beachtung des Infektionsschutzes ausgebaut werden. Mit einem entsprechenden Appell, der von Prof. Dr. Maud Zitelmann und zwei ihrer Kolleginnen, Dr. Carola Berneiser, Frankfurt University of Applied Sciences, und Prof. Dr. Kathinka Beckmann, Hochschule Koblenz, die in Studiengängen der Sozialen Arbeit und Pädagogik lehren und wissenschaftlich zum Fachgebiet Kinderschutz arbeiten, initiiert wurde, wandten sich über 100 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Öffentlichkeit, um Ihrer Besorgnis Ausdruck zu geben.
    Seitens des Hessischen Sozialressorts wurde versichert, die Vielzahl der Akteure auf diesem Arbeitsfeld in Hessen seien intensiv damit befasst, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen und - für eine zunächst zeitlich beschränkte Zeit des "Lock-downs" - geeignete Lösungen zu finden, ihre Aufgaben bedarfsgerecht weiter umsetzen zu können. Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang auf den hohen Einsatz der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe hingewiesen - ein Aussetzen ihrer Tätigkeit und eine höhere soziale Distanz zum Schutz vor Infektionen seien auch unter den gegebenen Bedingungen in der Kinder- und Jugendhilfe meist nicht oder nur in eingeschränktem Umfang möglich.
     
  2. Häusliche Gewalt
    Die gegenwärtige Situation von verstärkter häuslicher Isolation kann darüber hinaus einen Anstieg von häuslicher Gewalt und Missbrauch in Familien an sich auslösen. Unterstützungsangebote können hier helfen, interpersonale Konflikte zu entschärfen und gewaltfreie Kommunikationen zu ermöglichen.

    Vor diesem Hintergrund haben die Hessische Ministerin der Justiz, Eva Kühne-Hörmann, und der Hessische Minister für Soziales und Integration, Kai Klose, in einer gemeinsamen Presseerklärung auf die von der hessischen Landesregierung initiierten zahlreichen Maßnahmen hingewiesen, die dem Schutz vor Gewalt in der Partnerschaft und sexualisierter Gewalt, aber auch dem Schutz von Kindern dienen.  
    Justizministerin Kühne-Hörmann hob hervor, dass in Hessen Gewalt – insbesondere gegen Frauen und Mädchen - nicht hingenommen werde und bat die Menschen um besondere Achtsamkeit und Sensibilität in diesen Tagen. Sie wies zudem darauf hin, dass der Schutz von Opfern häuslicher Gewalt zu den Kernaufgaben der Justiz zähle und Familiengerichte für Gewaltschutzanträge stets erreichbar seien. Die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt war zuvor darauf aufmerksam gemacht worden, dass einzelne Rechtsantragstellen geschlossen und somit für die mitunter notwendige Beantragung eines Beratungsscheines nicht erreichbar seien. Aufgrund des ressortübergreifenden, umsichtigen Kontakts sowie sofortigen Handelns der relevanten Akteure, wurde dieser Zustand umgehend behoben.
    Die hessische Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt und der Landespräventionsrat stehen aktuell in intensivem Austausch mit dem Sozialressort (Fachreferat Jugend, Jugendhilfe, Prävention und Schutz vor Gewalt), dem Hessischen Landeskriminalamt und den zuständigen Koordinierungsstellen der anderen Bundesländer im Hinblick auf erforderlich werdende Maßnahmen (z.B. Schaffung von Notunterkünften, Apotheken als Notkontaktstellen). Die telefonische und die Online-Erreichbarkeit von Beratungsdiensten und Frauenhäusern werden fortlaufend gestärkt. Die Frauenhäuser stehen überdies mit dem Land und den Kommunen im intensiven Austausch darüber, wie sie den Bedarf an Neuaufnahmen von Frauen und Kindern unter Einhaltung der notwendigen hygienischen Schutzmaßnahmen gerecht werden können. Hierbei spielen sowohl die Jugendämter als auch die Gesundheitsämter vor Ort mit Blick auf den Kinderschutz und die Unterstützung von durch Gewalt belasteten Müttern eine wichtige Rolle. Die bisherigen Rückmeldungen aus dem Frauenunterstützungssystem zu einer Umfrage des Fachreferats im Sozialministerium zeigen, dass lokal bereits alternative Unterbringungsmöglichkeiten bereitstehen, um dem zu erwartenden Anstieg von Gewaltfällen begegnen zu können. Die Unterbringungsmöglichkeiten für gewaltbetroffene Frauen in dieser Situation müssen dabei in unmittelbarer und erreichbarer Nähe zu den Frauenhäusern angesiedelt sein, um den erforderlichen Schutz, die notwendige Unterstützung und den gebotenen Kontakt zu den von Gewalt betroffen Frauen mit ihren Kindern durch die Mitarbeiterinnen gewährleisten zu können.
     
  3. Häusliche Pflege älterer Menschen
    Die Prävention muss in Zeiten der Pandemie jedoch auch den Blick auf ältere Menschen richten, die ebenfalls in besonderem Maße von den aktuellen Maßnahmen betroffen sind.

    Die stellvertretende Vorsitzende des Landespräventionsrates, Frau Prof. Dr. Dr. Zenz, hat ebenfalls einen dringenden Appell verfasst, um auf das Thema häusliche Gewalt in der Pflege aufmerksam zu machen, welches sich durch die mittlerweile fast flächendeckend bestehenden Besuchsverbote noch verschärft haben dürfte. Die Kontaktsperre führt dazu, dass viele Unterstützungsmöglichkeiten (durch Hilfspersonen im Alltag) wegfallen. Auch die gesetzlich vorgesehenen Beratungsangebote finden in Zeiten der Pandemie nicht mehr persönlich, sondern nur noch telefonisch statt. Ebenso werden die obligatorischen Pflegeberatungseinsätze nach § 37 Abs. 3 SGB XI bis zum 30. Juni 2020 ausgesetzt. Die Feststellung oder Höherstufung der Pflegebedürftigkeit wird nun in digitaler Form vorgenommen. Pflegende Angehörige und Pflegebedürftige werden noch stärker isoliert, da Enkel, Urenkel, Kinder, Geschwister nicht mehr zu Besuch kommen sollen. Im Ergebnis führten diese Maßnahmen zu einer vollständigen Isolierung des Pflegebedürftigen und des pflegenden Angehörigen, womit erhebliche Einbußen des alltäglichen Lebens einhergehen und die ohnehin schwierige Pflegesituation erschwert wird und es infolgedessen zu Schuldzuweisungen, zu Aggressionen und letztlich zu gewalttätigen Übergriffen kommen könne. Um den Schutz der Betroffenen umfassend zu gewährleisten, und eben nicht nur die Risiken einer Infektion mit COVID-19 zu verhindern, sind öffentliche Kampagnen zum Schutz vor Gewalt in der häuslichen Pflege zu erwägen, um Verständnis für die Situation der Betroffenen zu signalisieren und vor allem Wertschätzung – nicht nur gegenüber den professionellen Pflegekräften, sondern auch gegenüber den pflegenden Angehörigen - zum Ausdruck zu bringen.

    Auf Beratungsstellen wie „Pflege in Not“, welche sich auf das Thema häusliche Gewalt in der Pflege spezialisiert haben, sollte bundesweit aufmerksam gemacht werden. Gegebenenfalls wäre dies auch der richtige Zeitpunkt, um über die Errichtung einer deutschlandweit einheitlichen Pflegenotrufnummer nachzudenken. Der hessische Landespräventionsrat fordert bereits seit Langem die Errichtung von gut ausgestatteten Stellen für Landespflegebeauftragte zur Ergänzung des bestehenden Pflege- und Betreuungssystems. Bei der Verhinderung von Überforderung kommt entlastenden Hilfen eine zentrale Rolle zu. Diese Angebote gilt es bekannter zu machen sowie Hemmschwellen zur Inanspruchnahme von entlastenden Hilfen abgebaut werden. Ambulanten Hilfen im Pflegebereich müssten allerdings gerade in den Zeiten der Pandemie ausgebaut und nicht abgebaut werden.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:

Die Präventionsarbeit wird in Zeiten der COVID-19- Pandemie vor neue Herausforderungen gestellt. Es zeigt sich noch mal mehr, wie wichtig ein ressortübergreifendes und abgestimmtes Vorgehen ist, um zeitnah Lösungen anbieten und Maßnahmen umsetzen zu können, um besonders vulnerable Gruppen auch in schwierigen Zeiten erreichen und schützen zu können. Der Landespräventionsrat Hessen und die Landeskoordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt stehen insoweit – auch länderübergreifend - in einem sehr intensiven Austausch mit anderen Ressorts und Gremien.

Herr Fünfsinn, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.


Landespräventionsrat Hessen

 

 

Prof. Dr. Heinz Cornel

19. Zwischenruf: 23. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Heinz Cornel
„Kriminal- und Gewaltprävention bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Strategie und eines positiven  Narrativs"

Heute ist Donnerstag, der 23. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Juristen, Pädagogen und Kriminologen Prof. Dr. Heinz Cornel aus Berlin. Herr Cornel hat bis 2019 Professor und Prorektor an der Alice Salomon Hochschule. Im Nebenamt war Herr Cornel Präsident des DBH-Fachverbandes und ist seit  mehr als 40 Jahren aktiv in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.

Herr Cornel, ich begrüße Sie herzlich, danke Ihnen für Ihre Bereitschaft zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Ich will heute nicht vorrangig über die Coronakrise sprechen, sondern auf die Notwendigkeit einer Handlungskonzeption für eine nachhaltige Gewaltprävention hinweisen. Bekanntlich haben wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland wichtige Schritte in der Prävention von Kriminalität und Gewalt gemacht, aber bisher ist es nicht gelungen, eine gesamtgesellschaftliche Strategie zur Prävention von Gewalt und ein positives Narrativ für das friedliche Zusammenleben aller Menschen zu entwickeln. Die Kompetenzen von Polizei und Strafjustiz sind von großer Bedeutung, aber es bedarf einer abgestimmten Strategie, die nicht nur die Verbote des Strafrechts in den Blick nimmt, sondern positiv respektvolles Zusammenleben, Gesundheit und Sicherheit für alle Menschen als nachhaltige Gewaltprävention sich nicht nur zum Ziel setzt, sondern in strategisches Handeln in allen gesellschaftlichen Bereichen umsetzt. Darauf hatte der Neuköllner Aufruf während des letzten Präventionstages in Berlin bereits hingewiesen und dies auch der Bundesregierung vorgetragen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufs?
In diesem kurzen Zwischenruf kann ich natürlich nicht konzeptionell einerseits breit und doch andererseits konkret über solche gesamtgesellschaftliche Strategien sprechen. Ich will stattdessen – nun doch mit Bezug zur Pandemie – zwei aktuelle Problematiken benennen, die im breiten Spektrum von Maßnahmen zur Kriminal- und Gewaltprävention äußere (frühe und späte) Positionen darstellen. Als Diplompädagoge schaue ich auf Lebenswelten von Kindern und als Strafrechtler mit dem Schwerpunkt Strafvollzug, Straffälligenhilfe und Resozialisierung auf die Situation in den Gefängnissen – vielleicht ist die Auswahl dann doch nicht ganz zufällig.
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie treffen Kleinkinder in schwierigen sozialen Lagen und Strafgefangene in besonderer Weise, das heißt, dass sich ihre vorhandenen Probleme noch verschärfen und deshalb besondere Aktivitäten zur Prävention notwendig sind.
Wenn Kinder keine Kindertagesstätten mehr besuchen können und teils mit überforderten Eltern in engen Wohnungen viele Wochen ununterbrochen verbringen, dann sind sie – darauf wurde in den letzten Monaten immer wieder hingewiesen - verstärkt Kindeswohlgefährdungen ausgesetzt, zumal auch die soziale Kontrolle verringert ist. Zweifellos muss der Kinder- und Jugendschutz gewährleistet sein -  das setzt Kenntnis von konkreten Gefährdungen voraus. Darüber hinaus werden aber Kinder in den Wohnungen auch Zeugen von häuslicher Gewalt gegen LebenspartnerInnen und lernen daraus an negativen Vorbildern. Sie können zur gleichen Zeit nicht im Umgang mit anderen Kindern in der Tagesstätte gewaltlose Konfliktschlichtung lernen und die Vermittlung anderer Bilder von Männlichkeit erfahren. Es ist zu befürchten, dass all dies nicht nur aktuelle Gewalterfahrungen für diese Kinder mit sich bringt, sondern auch späte Folgen hinsichtlich häuslicher Gewalt und gewalttätiger Erziehungsstile für die nächste Generation.

Welche spezifischen Probleme sehen Sie aktuell im Strafvollzug?
Hinsichtlich der Gefangenen ist zu befürchten, dass ein Ausbruch der Erkrankung in einer JVA angesichts der engen Belegung eine unabsehbare Gefährdung sowohl der Gefangenen als auch der Bediensteten mit sich bringen könnte. Die erforderlichen Abstands- und Hygienemaßnahmen müssen unbedingt eingehalten werden, was in vielen Anstalten kaum möglich ist. Die Reduzierung der Außenkontakte und insb. der Besuche ist verständlich und sinnvoll, für die Gefangenen muss das aber wie eine zusätzliche Strafverschärfung erscheinen. Dies erfordert die Reduzierung der Belegungszahlen durch Aufschub der Ladung zum Strafantritt, soweit irgend vertretbar; keine Ladung zur Verbüßung von Ersatzfreiheitsstrafen; möglicherweise auch eine Art „Corona-Amnestie“ bei kurzen Strafresten vergleichbar den Weihnachtsamnestien, die ja auch eigentlich Gnadenerweise sind.
Außerdem ist an einen verbesserten Zugang zu Telefonen oder auch zu Videogesprächen über Skype und vergleichbare Programme während der Zeit der Besuchseinschränkungen zu denken. Wenn immer die Gefangenen das wünschen, sollte auch das Schreiben von Briefen unterstützt werden. Schließlich ist für alle Gefangenen sicherzustellen, dass sie trotz der Restriktionen, unter Wahrung des empfohlenen Abstands von 1,50 m zwischen den Gefangenen genügend Zeit außerhalb der Hafträume und an der frischen Luft verbringen können. Dabei geht es um die Gesundheit der Gefangenen und damit ihre Menschenwürde. Der Respekt davor ist aber auch ein Beitrag zur Resozialisierung und damit zur Kriminalprävention. Die Straffälligkeit eines Menschen darf nicht zu einem verringerten Schutz vor dem Coronavirus führen - auch das ist Ausdruck der verfassungsrechtlich gebotenen Resozialisierung.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen:
Mir ist wichtig, dass Kriminal- und Gewaltprävention nachhaltig betrieben wird und einer gesamtgesellschaftlichen Strategie bedarf. Angesichts der Coronapandemie habe ich auf zwei Gruppen hingewiesen, die von den Einschränkungen ganz besonders betroffen sind: Kinder, die in ihren Familien von Gewalt bedroht sind und Gefangene, die in engen Gefängnissen zum einen von Infektionen bedroht und zum anderen ihrer sozialen Kontakte durch Besuche in besonderer Weise beraubt sind. Gerade in Zeiten, in denen viele Menschen von ungewohnten Einschränkungen betroffen sind, sollte an Bevölkerungsgruppen mit besonderen Problemen gedacht werden – um ihrer selbst, der Menschenwürde und auch um der Kriminal- und Gewaltprävention willen.
Lassen Sie mich noch einen letzten Gedanken anfügen, der hier nicht ausgeführt werden kann, der sich aber weitgehend selbst erklärt und mir sehr am Herzen liegt: Wir führen zurzeit auf vielen unterschiedlichen Ebenen - vom Bundestag über Experten-Hearings bis zum Nachbarschaftsgespräch - Diskurse über die Priorität von lebensrettenden Maßnahmen vor allen wirtschaftlichen Überlegungen. Ich hoffe sehr, dass eine neue Sensibilität und ein höheres Niveau der Reflexion über den Wert eines jeden Lebens sich auch international auf die Leben und Gewaltprävention für geflüchtete Menschen auf Lesbos, in Libyen und allen Kriegsgebieten beziehen.

Herr Cornel, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Prof. Dr. Jan Dirk Roggenkamp

18. Zwischenruf: 21. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Jan Dirk Roggenkamp

Heute ist Dienstag, der 21. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon den Juristen Prof. Dr. Jan Dirk Roggenkamp von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Der Forschungsschwerpunkt von Herrn Roggenkamp liegt in den rechtlichen Implikationen der IT-gestützten Polizeiarbeit, insbesondere im Bereich der Bekämpfung und Verhütung von Cybercrime und er ist u.a. Prozessbevollmächtigter bei der Verfassungsbeschwerde gegen die Online-Durchsuchung.

Herr Roggenkamp, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Nunmehr befinden wir uns quasi einen Monat im Zustand des „Lock-Down“ mit all seinen Auswirkungen im persönlichen und wirtschaftlichen Bereich. In diesem Monat ist deutlich geworden, wie wichtig ein vorausschauendes Krisenmanagement ist, welches den Balanceakt zwischen „schneller Lösung“ und „sicherer“ bzw. „rechtssicherer Lösung“ meistert.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Weder die vollständige Zurückstellung datenschutzrechtlicher oder gar IT-sicherheitsbezogener Bedenken noch ein Erstarren mit Blick auf die vermeintliche Herkulesaufgabe der rechtskonformen Umsetzung rechtlicher – und letztlich grundrechtsschützender – Vorgaben kann die Lösung sein. Lassen Sie mich dies an zwei Beispielen illustrieren:

  1. Online-Beantragung von „Corona-Hilfen“
    Viele Unternehmer sind zur Überbrückung der „Corona-Situation“ auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Diese sollte schnell und unbürokratisch gewährt werden. Offenbar wurde jedoch nicht zureichend bedacht, dass ein immenses Missbrauchspotential entsteht, wenn eine „unbürokratische“ Vergabe bedeutet, dass zu wenige Sicherheitsvorkehrungen erfolgen. Medienberichten zu Folge hat es regelrechte Phishing-Fischzüge gegeben und Soforthilfen sind schlicht an die falschen Adressaten abgeflossen.
     
  2. Schule / Vorlesung online
    Um weiterhin Unterricht und Vorlesungen zu gewährleisten, soll auf E-Learning gesetzt werden. Insbesondere Videokonferenzsysteme können hier eine große Hilfe sein. Das hier datenschutzrechtliche Vorgaben einzuhalten sind, ist selbstverständlich. Da jedoch die Vorgaben (und ihr Umfang) als solche vielfach unklar sind, wird unter Verweis auf datenschutzrechtliche Bedenken häufig einfach nichts gemacht (oder gar mit Klage gedroht). Aus meiner Sicht ist es hier wichtig für Nichtjuristen verständliche, datenschutzkonforme Lösungen anzubieten und auch Handreichungen zu erstellen, die aufzeigen wie Lehrerinnen und Lehrer, Professorinnen und Professoren etc. rechtskonform die geforderte kreative Lehre durchführen können. Kurz: es sind jetzt konstruktive Ansätze statt (nur) mahnender Finger gefordert.
     
Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Es klingt profan, aber weder „Husch, husch, die Waldfee!“-Lösungen noch Gar-nichts-Tun sind angesichts der weiter unsicheren Lage angebracht. Insofern ist es ausdrücklich zu begrüßen, dass offenbar versucht wird, bei der Programmierung und Gestaltung der für notwendig erachteten „Corona-App“ die möglichen datenschutzrechtlichen Implikationen von vorneherein zu berücksichtigen. Es zeigt sich das IT- und Daten-Sicherheit auch in Krisenzeiten einen hohen Stellenwert hat und haben muss.

Herr Roggenkamp, Danke für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Forschungsinstitut für öffentliche und private Sicherheit (FÖPS Berlin)
https://www.foeps-berlin.org/

Georg Ungefuk

17. Zwischenruf: 09. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Georg Ungefuk

Heute ist Donnerstag, der 9. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich sehr über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Herrn Georg Ungefuk. Er ist Oberstaatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt und zugleich Pressesprecher der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität.

Herr Ungefuk, ich begrüße Sie nochmal recht herzlich und darf Sie zunächst um eine Einschätzung bitten, welche Präventionsaspekte Ihnen aktuell besonders wichtig sind und besonders am Herzen liegen.
Ja, ich denke, das ist in der aktuellen Situation auch weiterhin die Internetkriminalität - ein besonderer Kriminalitätsbereich, der sehr dynamisch ist, der sehr stark von neuen Entwicklungen geprägt ist und der gerade in der aktuellen Zeit, also in Zeiten wo wir mit Dingen wie Lockdown oder mit Social Distancing zu tun haben, von großer Bedeutung ist, weil mit diesem Kriminalitätsbereich immer große Gefahren einhergehen.

Und es ist weiterhin ein Bereich, wo die Prävention auch ganz besondere Bedeutung hat und es sehr stark auf die Kriminalprävention ankommt.
Wie verstehen Sie in diesem Zusammenhang Prävention?
Prävention in dem Bereich heißt  in besonderem Maße Öffentlichkeitsarbeit, das bedeutet eine ganz große breite Darstellung von präventionsrelevanten Bereichen der Internetkriminalität in der Öffentlichkeit – Sensibilisierung von Menschen, von Einrichtungen, auch von Unternehmen. Das Zentrale ist: Wenn man weiß, dass bestimmte Gefahren bei der Nutzung des Internet auf einen lauern, dann kann man vieles, was die Gefährdung angeht minimieren und viele Schäden vermeiden.

Es ist schlicht und einfach  im Bereich der Internetkriminalität so, dass Ermittlungen in diesem Bereich sehr schwierig sind, dass sie nicht immer von Erfolg gekrönt sind, dass sie sich häufig auch über Jahre hinweg ziehen, weil entweder die Spuren sehr stark durch viele technische Möglichkeiten verwischt sind oder ins Ausland führen und multinationale Aktionen erfordern. Deswegen ist Prävention in dem Bereich von so einer großen und eminenten Bedeutung, dass es einer permanenten Öffentlichkeitsarbeit bedarf, um die Anwender, die Unternehmen und  Einrichtungen über die Gefahren aufklären kann.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie ausreichend gehört werden in Pressekonferenzen, die Sie geben, in Pressehintergrundgesprächen? Sind die Medien inzwischen so weit, dass Sie sich auch gern anhören, wenn ein Staatsanwalt sagt: Freunde, berichtet bitte über die Prävention?
Ich denke schon, dass wir eine relativ große, breite Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Jahren gemacht haben, um viele Menschen zu erreichen, um die Öffentlichkeit anzusprechen. Man muss natürlich sagen, wir sind nicht der einzige Player im Bereich der Strafverfolgung, Deutschland ist ein föderaler Staat mit vielen Bundesländern, mit vielen Behörden. Deswegen ist es auch eine Aufgabe für alle. Und, was in diesem Zusammenhang auch immer zu beachten ist: Als Staatsanwaltschaft sind wir Strafverfolgungsbehörde, wir sind also auch an bestimmte Grundsätze gebunden: Wir können also letztlich nicht sehr offensiv für Präventionsarbeit weitreichend über Verfahren berichten oder Einzelheiten aus laufenden Ermittlungsverfahren der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Da sind andere Einrichtungen eher gefragt, mit denen wir dann zusammenarbeiten, etwa die Polizeibehörden oder auch das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, deswegen ist es eine Aufgabe für ganz viele. Nur wenn viele sich an der Präventionsarbeit in diesem Bereich beteiligen, wird es eine große Wirkung geben und mehr Menschen werden sensibilisiert werden können und wir werden die Gefährdung aus diesem Bereich oder die mit diesen Kriminalitätsformen einhergehen, besser begegnen können.

Wie sehr fühlen Sie sich eingeengt und gebunden durch die aktuelle Situation? Man hat ja zum Teil, wenn man die Nachrichten schaut oder hört, das Gefühl es geht nur noch um Corona und auch nur noch um die medizinischen Aspekte.
Das ist etwas, was zweifelsfrei  so feststellbar ist, das heißt, thematisch überlagert das Thema natürlich ganz viele andere Dinge. Kriminalitätsphänomene oder bestimmte Gefahren der Kriminalität sind etwas dann auf dem zweiten Plan, das ist ganz selbstverständlich, weil Menschen natürlich in so einer Situation in Sorge sind, um die eigene Gesundheit und die Gesundheit von Angehörigen, weil dieses Thema schlicht und einfach letztlich für alle von Bedeutung ist.

Aber gerade die letzten Tage haben auch gezeigt, dass sich Medien zunehmend auch auf die Schnittfelder der aktuellen Pandemie und den Phänomenen aus dem Bereich der Internetkriminalität fokussiert haben, wie die aktuelle Medienberichterstattung zeigt, weil auch in der heutigen Zeit natürlich auch viele Menschen sehr stark im Internet aktiv sind. Und wenn ich viele Internetnutzer habe, dann sind auch die Angriffsfelder für Internetkriminelle natürlich auch breiter und größer. Das ist etwas, wo wir auch gerade in den letzten Tagen gemerkt haben, dass auch das Thema Prävention immer noch aktuell ist und ungeachtet der Pandemie gleichwohl eine gewisse Bedeutung in den Medien bekommen hat.

Welche konzertierten Maßnahmen sind Ihrer Meinung nach denkbar, um mit der Erfahrung dieses Corona-Angriffs in dieser Corona-Situation noch effizienter und effektiver Prävention voranzutreiben zu können?
Eine ganz schwierige Frage, weil sie letztlich die Komplexität dann auch sofort in den Blick nimmt, nämlich, dass wir es mit ganz vielen Einrichtungen und Institutionen in einem föderalen Staat zu tun haben, die sich an Präventionsarbeit beteiligen müssen, wenn es um ein bestimmtes Phänomen geht oder auch einen bestimmten Kriminalitätsbereich. Aber ich glaube, dass die aktuelle Pandemielage das auch gezeigt hat, das man auch in einem föderalen Gebilde, wo mehrere Bundesländer, wo Behörden mehrerer Bundesländer, des Bundes, der Länder zusammenarbeiten müssen und auch konsequent und schnell Öffentlichkeitarbeit betreiben müssen, das das etwas ist, was dann durchaus auch für den Bereich der Kriminalprävention von Interesse und von Bedeutung ist, weil es letztlich auch zeigt, dass man auf einem Gebiet, wo sehr viele berufen sind, gelingen kann und möglich ist, mit schneller und effizienter Öffentlichkeitsarbeit ganz viele Menschen zu erreichen, um Gefahren abzuwenden. Und das ist etwas, glaube ich, was für die Präventionsarbeit als solche durchaus einen gewissen Modellcharakter haben könnte oder jedenfalls zeigen kann, dass es funktioniert und das auch in einem relativ komplexen System mit föderalen Strukturen.

Ich danke Ihnen für heute ganz herzlich für das Gespräch. Alles Gute und bleiben Sie gesund!
Ich danke Ihnen, Herr Marks und bleiben Sie auch gesund!

Prof. Jörg Ziercke

16. Zwischenruf: 08. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Jörg Ziercke
„Am Ende der Krise wird das Ehrenamt einen neuen gesellschaftlichen Aufschwung erleben“

Heute ist Mittwoch, der 8. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufn zur Prävention.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Jörg Ziercke. Herr Ziercke ist seit vielen Jahrzehnte ein national wie international besonders ausgewiesener Sicherheits- und Präventionsexperte. Bis zu seiner Pensionierung war Herr Ziercke zuletzt Präsident des Bundeskriminalamtes; aktuell fungiert er als Vorstandsvorsitzender der Opferhilfevereinigung WEISSER RING.

Herr Ziercke ich begrüße Sie herzlich zu diesem Zwischenruf und darf Sie mit Blick auf Ihr aktuelles Ehrenamt fragen, wie Sie die Arbeit des Weißen Rings in diesen Krisenzeiten aktuell erleben?
Die größte Herausforderung für die Ehrenamtlichen im Weißen Ring in dieser Krise ist das Thema Social Distancing. Vor allem auch deshalb, weil die Altersgruppe der Opferhelfer überwiegend zur Risikogruppe gehört. Der persönliche mitmenschliche Kontakt mit dem Opfer muss derzeit weitgehend durch das Gespräch per Telefon, den Austausch von Mails oder durch Einhaltung der Abstandsregel gewährleistet werden. Wir bewerben daher unser Opfertelefon und die Onlineberatung sehr stark, haben unsere festen Mitarbeiter ins Home-Office geschickt und uns technisch so aufgerüstet, dass die administrative Opferhilfe im absoluten Ernstfall für ca. 400 Außenstellen und 3000 Opferhelfer vollständig von der Bundesgeschäftsstelle in Mainz aus koordiniert werden kann. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Kriminalprävention. Wir warnen verstärkt vor den Auswirkungen der häuslichen Gewalt an Frauen und Kindern und betrügerischen Machenschaften durch den Missbrauch der Angst der Menschen.

Welche Präventionsaspekte erscheinen Ihnen aktuell besonders wichtig?
Durch die Isolation und Quarantäne in fast allen Haushalten gehen wir davon aus, dass es zu einem sehr deutlichen Anstieg der Fälle häuslicher Gewalt kommen wird. Die Corona-Krise zwingt die Menschen, in der Familie zu bleiben, hinzukommen Stressfaktoren wie finanzielle Sorgen und Zukunftsunsicherheit. Diese Spannung kann sich in Gewalt entladen. Unsere Opferhelfer kennen das von Festtagen wie Weihnachten: Wenn die Menschen tagelang zu Hause sind, gehen die Fallzahlen in die Höhe. Die Kontaktsperre wegen Corona dauert aber sehr viel länger als Weihnachten, die Stressfaktoren sind auch größer, u.a. durch die Ungewissheit, wie lange die Sperre andauern wird. Wir müssen deshalb leider mit dem Schlimmsten rechnen. Die Gewalt geschieht jetzt – sichtbar wird sie aber erst, wenn die Kontaktsperren aufgehoben sind. Das zeigen die Erfahrungen unserer Opferhelfer nach den Weihnachtstagen: Betroffene melden sich häufig nicht, solange sie mit den Tätern auf engem Raum zusammensitzen.

Zusätzlich nutzen Trickbetrüger aktuell die Unsicherheit der Menschen wegen des Corona-Virus schamlos aus. Dabei ist der Erfindungsreichtum der Täter groß. Sie klingeln beispielsweise als falsche Mitarbeiter vom Gesundheitsamt an Türen, um einen angeblichen Coronatest durchzuführen und entwenden dabei Bargeld und Wertsachen. Durch einen Anruf eines vermeintlichen Enkels mit der Bitte um Geld für die Finanzierung von Corona-Medikamenten, werden Betroffene unter Druck gesetzt, Geld an einen Boten zu übergeben. Außerdem locken im Netz die Täter mit dubiosen Schnäppchen von Atemschutzmasken oder Desinfektionsmitteln. Die Varianten der verschiedenen Betrugsmaschen ändern sich derzeit ständig, umso wichtiger ist es uns als Opferhilfsorganisation die Tricks, Lügen und Täuschungsmanöver der Betrüger aufzuzeigen und Betroffenen zur Seite zu stehen. Für uns ist Kriminalprävention der beste Opferschutz.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Opfer von Gewalt oder anderen Formen kriminellen Unrechts zu werden, kann Sicherheit und Selbstwertgefühl eines Menschen nachhaltig erschüttern und als Folge die Lebensgrundlagen entziehen. Der Weiße Ring stellt wegen der Coronakrise seine Hilfe nicht ein. Viele Folgen von Straftaten sind für Betroffene und ihre Angehörigen irreparabel. Wir stehen für alle Kriminalitätsopfer weiter zur Verfügung.  Außerdem möchten wir bereits im Vorfeld einer Straftat durch Maßnahmen der Kriminalprävention Menschen schützen. Durch die Corona-Krise sind wir in einer außergewöhnlichen Situation und der Blick richtet sich derzeit verstärkt auf das Gesundheitswesen, was gut und richtig ist. Dennoch möchten wir auf Themen wie Häusliche Gewalt und die vielfältigen Betrugsmaschen, die derzeit im Umlauf sind, aufmerksam machen. Wir sensibilisieren für die verschiedenen Themen, klären über die Maschen der Betrüger auf, um dadurch Straftaten zu verhindern und somit potenzielle Opfer zu schützen.

Abschließend wäre ich Ihnen noch dankbar für eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Zwischenruf.
Bei all den wirtschaftlichen Fragen und Nöten, die uns alle zu Opfern dieser Krise machen, dürfen diejenigen nicht in Vergessenheit geraten, die durch kriminelle Taten zusätzlich geschädigt werden.  Unsere Botschaft lautet: Auch in der jetzigen Zeit ist der WEISSE RING für Opfer da – über unser Opfer-Telefon, die Onlineberatung und die 400 Außenstellen finden Betroffene Unterstützung. Wenn jemand Opfer einer Straftat wird, kann der WEISSE RING schnell und direkt helfen. Ich habe die große Hoffnung, dass diese Krise den Zusammenhalt und die Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft nachhaltiger stärkt als jemals zuvor. Ich bin deshalb davon überzeugt, dass am Ende dieser Krise das Ehrenamt einen neuen gesellschaftlichen Aufschwung erleben wird.

Herr Professor Ziercke, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

www.weisser-ring.de
Opfer-Telefon: 116 006
Onlineberatung: https://weisser-ring.de/hilfe-fuer-opfer/onlineberatung

Prof. Dr. Melanie Wegel

15. Zwischenruf: 08. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Melanie Wegel
„Der digitale Raum als Chance für die Kriminalprävention - auch in Krisenzeiten!“

Heute ist Mittwoch, der 8. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professorin Dr. Melanie Wegel. Frau  Wegel ist Soziologin, Geografin und Erziehungswissenschaftlerin und arbeitet aktuell als Professorin am Institut für Delinquenz und Kriminalprävention der Hochschule für angewandte Wissenschaft in Zürich.  

Frau Wegel, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Wie bereits in vorigen Zwischenrufen angesprochen wurde, enden die Probleme von Kindern – und Jugendlichen nicht, durch die Schliessung der Schulen. Der Unterrichtsauftrag kann und wird teilweise auf anderen Wegen wahrgenommen und bereits hier zeigt sich, dass dies vielen Lehrpersonen gut gelingt, andere hingegen weniger engagiert sind. Es zeigt sich aber auch, dass die Soziale Arbeit und hier die Präventionsarbeit, sei es im schulischen Kontext und auch in der offenen oder der aufsuchenden Jugendarbeit weitgehend zum Stillstand kommt, sofern die Präsenz wegfällt. Die altbewährten telefonischen Beratungen können hier Hilfe leisten, wobei diese nicht für alle Zielgruppen und Fokusthemen ansprechbar sind.
Dass Prävention auch ohne den direkten Kontakt funktionieren kann zeigt sich an der Thematik Cybermobbing, -grooming etc, wo Formate wie «klicksafe» als erste Adresse gelten, sofern man sich über diese Thematik informieren möchte oder aber Hilfe braucht. Bei «klicksafe» findet die Prävention in dem Lebensraum statt, für den sie entwickelt wurde. Auch für andere Bereiche der Präventionsarbeit bietet gerade das Internet hier Chancen, indem auch für die aufsuchende Jugendarbeit, die Idee des «Online Streetwork» entwickelt wurde.
Besonders innovativ zeigt sich auch das Konzept der «zivilen Helden», wo ein Forschungsverbund das Thema Zivilcourage aufbereitet hat und mittels Video Clips und interaktiven Elementen sowie dem Stilmittel des Rap,  im Internet zum Diskurs und der Reflektion angeregt werden soll. Formate wie dieses gelten zukünftig sicher als Messlatte dafür, wie Prävention sein kann und sollte um die Zielgruppe zu erreichen.


Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Die Akteure in der Präventionsarbeit sind angehalten schnell Formate zu entwickeln oder bestehende Formate so umzusetzen, dass diese auch in Krisenzeiten – ohne Präsenz – Anwendung finden. Eine Vielzahl an Materialien existiert hier schon. Denkbar wäre der Einsatz von Filmen wie eben im Bereich Zivilcourage oder auch mit Blick auf die Sensibilisierung von Mobbing, die es in einer grossen Anzahl gibt oder angefordert werden können. Ziel wäre es, dass Sozialarbeitende den Einsatz von diesen Medien moderieren, was auch in diesen Wochen schnell umgesetzt werden könnte.

Für gut und langfristig implementierte Projekte, die einer Schulung bedürfen, wäre es von Seiten der Entwickler notwendig, anstatt oder zusätzlich zu Schulungen, Webinare, Fortbildungen via zoom oder ähnliches zu entwickeln und anzubieten.

Ist bereits absehbar ob und in welcher Form das Zürcher Institut für Delinquenz und Kriminalprävention sich hier mit einbringen kann?
Wir als Hochschule, waren angehalten, innerhalb einer Woche sämtliche Lehrveranstaltungen auf «präsenzlos» umzustellen. Das hat ganz ausgezeichnet geklappt. Auch deshalb, weil wir einen sehr guten support von unseren technischen Kollegen hatten, die uns dabei unterstützt haben, wie webinare, oder Lehrveranstaltungen via zoom, gehalten werden können. Diese Situation wird noch bis Ende Juli andauern. Im eignen Weiterbildungsangebot, einem CAS (Certificate of Advanced Cieces), werden auch inhaltlich Formate eingebunden, wie etwa «Online Streetwork» via Instagramm oder andere soziale Medien.
......

Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.
Die Zeit ohne Präsenz sollte und darf nicht ohne Prävention stattfinden. Die Akteure sollten diese Zeiten als Chance sehen ihr Handlungsrepertoire zu erweitern, wozu das Internet sich anbietet, und wovon die Professionellen und das Zielpublikum auch zukünftig profitieren werden, auch was die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Entwicklung neuer Formate, mit Blick auf die Zukunft anbelangt.

Web: https://www.zhaw.ch/de/ueber-uns/person/wege/

 

Dr. Thomas-gabriel Rüdiger

14. Zwischenruf: 08. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger
„Nicht nur Eltern müssen sich aktuell intensiv mit der Mediennutzung unserer Kinder auseinandersetzen“

Heute ist Mittwoch, der 8. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten des Corona-Virus und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger aus Oranienburg. Herr Rüdiger ist Kriminologe am Institut für Polizeiwissenschaft an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg und bezeichnet sich selbst als „Cyberkriminologen“
Herr Rüdiger, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Gegenwärtig setze ich mich mit der primären Frage auseinander wie im digitalen Raum das Gefühl der Rechtsfreiheit gesenkt werden kann. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von einem Broken Web Phänomen, dass also die Masse an sichtbaren Normenüberschreitungen und das weitestgehende Fehlen einer sichtbaren Normenkontrolle, zu einem Gefühl der Rechtsfreiheit und damit wiederum zu einer Senkung der Hemmschwelle zur Tatbegehung führen kann.

Woran machen Sie das fest?
Dieser Aspekt kann u.a. daran erkannt werden, dass viele Täter bei digitalen Delikten offenbar nur eine geringe Angst vor Strafverfolgung haben. Wenn man hierbei die Dunkelzifferrelationen von rein analogen und digitalen Delikten vergleicht, haben Täter offenbar zu Recht nur eine geringe Angst, da viel weniger digitale als analoge Delikte aus dem Dunkelfeld ins das Hellfeld gelangen. Gleichzeitig haben wir im Netz auch eine Form von digitaler Kriminalitätstransparenz, die wir so im anlogen Raum kaum in dieser Form kennen. Vermutlich jeder Internetnutzer kennt die täglichen Phishing Emails, oder Anfragen von ominösen Profilen in Sozialen Medien, die letztlich häufig auch versuchte Betrugshandlungen darstellen. Viele werden dies als Normalität empfinden und kaum länger darüber nachdenken. Was bedeutet es aber, wenn Menschen täglich mit solchen Delikten im Netz konfrontiert werden?

Und was bedeutet das unter Präventionsgesichtspunkten?
Diese Grundsatzüberlegungen sind aus meiner Sicht unumgänglich, wenn man über eine Art digitale Generalprävention sprechen will. Also die Schaffung eines digitalen Raumes, der Risiken ähnlich minimiert wie gegenwärtig der Straßenverkehr. Hierfür muss man über die Vermittlung von Medienkompetenz durch Eltern, aber auch durch die Schulen an die Kinder sprechen, über die Erhöhung der Strafverfolgungswahrscheinlichkeit im Netz, beispielsweise über Formen von sichtbaren digitalen Polizeistreifen, aber auch über eine Anpassung des rechtlichen Rahmens – wie einen angepassten Jugendmedienschutz – sprechen. Mittelbar muss dann auch darüber gesprochen werden, wie überhaupt das Miteinander aller Altersstufen in einem globalen digitalen Raum – ohne wahrnehmbare physische Grenzen – gestaltet werden kann. Hierbei muss man auch bedenken, dass es keine Form des digitalen Dualismus, dass bedeutet aus meiner Sicht, dass sich Handlungen aus dem physischen auch auf den digitalen und umgekehrt auswirken kann. Wer also im Netz, eine geringe Hemmschwelle entwickelt könnte diese auch im physischen Raum haben.
Vor dem Hintergrund, dass Kinder heutzutage statistisch gesehen mehr Zeit im Netz verbringen als im physischen Raum, sind das Fragestellungen, die für eine digitale Generalprävention aus meiner Sicht dringend diskutiert werden müssen.   

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Der digitale Raum ist besonders geprägt von der Nutzung Sozialer Medien – also Programmen, die eine onlinebasierte Interaktion und Vernetzung der Menschen untereinander ermöglichen. Solche Programme reichen von Facebook und Twitter, über Instagram und TikTok bis zu Onlinegames wie Fortnite, aber auch Quizduell oder Brawlstars. Diese Medien ermöglichen faktisch eine Kommunikation von Menschen aller Altersstufen auf der gesamten Welt. Hierdurch hat sich auch eine Art globaler Kriminalitätsraum gebildet, denn Kriminalität entsteht ja häufig – und je nach Ausprägung – gerade aus Interaktionen zwischen Menschen. Bedingt durch die immer leistungsfähiger werdenden Übersetzungsprogramme, werden auch die Sprachgrenzen für Täter im Internet immer irrelevanter. So gibt es bereits heute Fälle in denen Täter bei Cybergrooming – also der onlinebasierten Anbahnung eines sexuellen Kindesmissbrauchs – nicht einmal die Sprache ihrer Opfer beherrschen, sondern über Übersetzungsprogramme auf die Kinder einwirken. Je mehr Zeit Kinder im digitalen Raum verbringen umso höher ist dabei das Risiko, dass sie auch mit digitalen Risiken und Delikten, wie das angesprochene Cybergrooming, aber auch sexuelle Belästigungen, digitaler Hasskriminalität, Cybermobbing und Co. konfrontiert werden. Bisher hat es die Gesellschaft aber nicht verstanden Kinder vor diesen Risiken im Internet hinreichend zu schützen. Vielmehr herrscht bis heute die grobe Vorstellung vor, dass der einzige Schutz von Kindern vor Risiken im digitalen Raum nur die Eltern darstellen können. Viele Eltern sind jedoch offenbar bereits heute mit dieser Herausforderung überfordert. Insbesondere in der jetzigen Situation, kann dies aber zu einem großen Problem werden, da davon ausgegangen werden kann, dass viele Kinder noch mehr Zeit im digitalen Raum verbringen werden als vorher. Eltern werden aber jetzt nicht einfach die Fähigkeiten oder die Zeit haben ihren Kindern eine entsprechend notwendige Medienkompetenz zu vermitteln, um diesen Risiken wenigstens ansatzweise zu begegnen.

Sie diagnostizieren also im Wesentlichen ein Elternversagen?
Leider muss auch davon ausgegangen werden, dass die Gesellschaft selbst keinen vermehrten Schutz von Kindern im digitalen Raum in dieser Situation umsetzen wird. Weder wird es mehr digitale Polizeipräsenz geben, noch werden Betreiber Sozialer Medien mehr Kinderschutz betreiben, obwohl dies eigentlich absolut notwendig wäre.
Dabei muss auch bedacht werden, dass es nicht nur darum gehen kann Minderjährige vor Viktimisierungen oder nur der Konfrontation mit diesen Delikten zu schützen. Leider ist es auch ein klar nachvollziehbarer Trend, dass bei digitalen Delikten immer häufiger Minderjährige selbst als Tatverdächtige in Erscheinung treten. Dies gilt insbesondere bei Sexual- aber auch Beleidigungsdelikten vor allem auch im schulischen Kontext. Teilweise kann hierbei auch angenommen werden, dass viele Minderjährige sich des Strafcharakters bzw. des Unrechtsgehalts ihrer Handlungen nicht immer bewusst sind. Hier fehlt es weitestgehend an flächendeckenden Aufklärungskampagnen, die auch in verständlicherweise Weise diese Themen an Kinder und Minderjährige vermitteln.
Obwohl diese Problematik nicht nur auf Eltern alleine ausgelagert werden darf – denn was würde dies für Kinder bedeuten, deren Eltern kein Interesse an ihren Kindern haben oder schlicht nicht die notwendigen Fähigkeiten besitzen – gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt doch keinen effektiveren Schutz für die Kinder, als ihre Eltern selbst. Diese müssen gerade in Zeiten in denen Kinder noch mehr Zeit im digitalen Raum verbringen, sich selbst intensiv mit Sozialen Medien und Onlinegames, den digitalen Risiken, aber auch den rechtlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzen um eine Art eigene Medienkompetenz zu erwerben und damit auch die ihrer Kinder zu erhöhen. Gleichzeitig erscheint es mir aber auch notwendig, dass vor allem die Sicherheitsbehörden jetzt auch ihre Ressourcen soweit es geht vermehrt in den digitalen Raum verlagern um diesen Entwicklungsprozessen auch zu begegnen.
Geschieht dies nicht in einem hinreichenden Maßstab, muss leider mit steigenden Viktimisierungs- aber auch Tatverdächtigenzahlen bei Minderjährigen in diesem Zusammenhang gerechnet werden.

Abschließend wäre ich Ihnen noch dankbar für eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Zwischenruf.
Minderjährige werden jetzt vermutlich noch mehr Zeit im digitalen Raum verbringen werden, als dies bereits vorher der Fall war. Dies bedeutet aber auch, dass die Minderjährigen einerseits verstärkt mit den digitalen Risiken konfrontiert werden und andererseits auch vermehrt selbst digitale Delikte begehen können. Dabei waren bereits vorher weder die Gesellschaft noch die Eltern als solches hinreichend dazu in der Lage Kinder auf die Herausforderungen und Risiken dieses digitalen Raumes vorzubereiten. Dies zeigte sich in den letzten Jahren beispielsweise bei den steigenden Fall- und Konfrontationszahlen bei digitalen Delikten als auch bei den Fallzahlen minderjähriger Tatverdächtiger bei Cybergrooming, kinder- oder jugendpornografischen Delikten oder im Bereich von Beleidigungsdelikten. Daher ist es aus meiner Sicht jetzt unumgänglich, dass sich insbesondere Eltern intensiv mit der Mediennutzung ihrer Kinder, aber auch ihrer eigenen auseinandersetzen, um letztlich die Medienkompetenz zu erhöhen. Gleichzeitig erscheint es aber auch notwendig, dass die Sicherheitsbehörden Ressourcen genau dahin verschieben wo sich die Menschen jetzt vermehrt aufhalten, nämlich in den digitalen Raum.

Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger auf
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Gesa Stückmann

13. Zwischenruf: 07. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Gesa Stückmann
„Auch und gerade in Corona-Zeiten müssen Kinder und Jugendliche beim Umgang mit dem Smartphone oder PC begleitet werden.“

Heute ist Dienstag, der 7. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon die Rostocker Rechtsanwältin Gesa Stückmann. Frau Stückmann ist Expertin für die Prävention von Cybermobbing und hat in diesem Arbeitsfeld in den letzten 10 Jahren zahlreiche preisgekrönte Initiativen und Informationsangebote kreiert.

Frau Stückmann, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.
Die Themen, die mich seit 13 Jahren beschäftigen: Cybermobbing, Cybergrooming, Sexting, enden leider nicht mit Schließung der Schulen. Gerade weil die Kommunikation derzeit fast ausschließlich über digitale Wege abläuft, da persönliche Treffen nicht möglich sind, muss auch dieses Thema weiter im Fokus bleiben.
Auch wenn jetzt vielleicht mehr telefoniert wird, so bleibt der Hauptkommunikationsweg unter Kindern und Jugendlichen doch die Nutzung von Messenger-Diensten wie WhatsApp: Ein Lehrer kontaktiert die Schulsozialarbeiterin, weil seine Schüler sich in der WhatsApp-Gruppe heftigst beleidigen. Die Schulsozialarbeiterin hat derzeit jedoch keinen persönlichen Kontakt zu den SchülerInnen und fragt sich, wie sie helfen kann. Alle Beteiligten sind in der Situation hilflos und brauchen Unterstützung.
Gleichzeitig ist auch der Zugriff Erwachsener auf Kinder über die sozialen Medien, das sog. Cybergrooming, weiterhin möglich und die Erwachsenen wissen, dass Kinder derzeit vermehrt Zeit online verbringen: Es kann zu verstörenden Erlebnissen auf Plattformen wie Instagram oder Tiktok , in Chats oder auch Games kommen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?
Eltern haben größtenteils keine Ahnung, welche Inhalte ihren Kindern z.B. auf dem Smartphone begegnen, was sie dort tun. Die Zeit, die sie jetzt bedingt durch die Corona-Epidemie gemeinsam zu Hause verbringen, sollten sie für den Austausch nutzen, sich dafür interessieren, was ihre Kinder mit den digitalen Medien machen. Und auch ihr eigenes Verhalten mal überdenken: Wie nutze ich die digitalen Medien? Bin ich für mein Kind noch erreichbar? Beachte ich das Recht am eigenen Bild meines Kindes oder poste ich Fotos von ihm nach Lust und Laune? Auf diese Probleme müssen Eltern aber erst aufmerksam gemacht werden, da sie sich dieser gar nicht bewusst sind. Daher biete ich derzeit Webinare für Eltern abends an, zu denen sie sich von zu Hause zuschalten können und in denen ich Ihnen die Gefahren und Risiken vor Augen führe. Dabei zeige ich ihnen aber auch Lösungsmöglichkeiten auf und weise darauf hin, wie wichtig es ist, mit seinen Kindern zu sprechen statt nur Verbote auszusprechen. Regeln aus Zeiten vor Corona z.B. für Zeiten der Bildschirm- oder Smartphonenutzung sind aktuell nicht mehr gültig – Kinder verbringen viele Stunden allein durch Schularbeiten vor dem Rechner oder am Smartphone.

Aber auch Lehrkräfte, SchulsozialarbeiterInnen brauchen Unterstützung. Es ist wichtig, ein – möglichst bundesweites - Netzwerk zu schaffen, wo sich alle Beteiligten – auch die Eltern - ratsuchend hinwenden können oder wo sie nachfragen können, wer ein geeigneter Ansprechpartner wäre. Das Wissen um solch ein Netzwerk schafft schon Sicherheit und zeigt, dass man mit den Problemen nicht allein ist. So kontaktierte mich kürzlich eine Mutter, deren Tochter von MitschülerInnen online massiv fertig gemacht wird. Um ihr nicht nur mit rechtlichen Hinweisen zu helfen, habe ich den Kontakt zur Opferhilfe Oberfranken hergestellt, wo man sie mit ihren Sorgen auffangen und fachspezifische Hinweise geben konnte.

Die aktuelle Ausnahmesituation zeigt aber auch, wie wichtig Schulsozialarbeit ist und dass diese viel mehr unterstützt und als wichtiger wesentlicher Bestandteil von Schule anerkannt werden muss. Sie ist oftmals den SchülerInnen sehr nah und hat eine große Vertrauensstellung inne, da sie der Schweigepflicht unterworfen ist und weder Elternteil noch Lehrperson ist – quasi der „Anwalt des Kindes“. Dabei gehen die SchülerInnen nicht nur mit Problemen, die sie mit ihren LehrerInnen haben, zu ihnen, sondern auch mit familiären Konflikten. Momentan können die SchulsozialarbeiterInnen aber nicht vermitteln, unterstützen – Konflikte zu Hause müssen ohne Hilfe ausgetragen werden und können dann eskalieren.

Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.
Die Kontaktsperre und die Schließung von Schulen und anderen Einrichtungen macht Probleme sichtbar und verschafft ihnen mehr Aufmerksamkeit. Bleibt zu hoffen, dass diese Aufmerksamkeit nach Ende der Krise zu einem Umdenken führt und die guten Ideen, die jetzt entstanden sind, auch umgesetzt bzw. beibehalten werden.


Frau Stückmann, Danke für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Unsere Projekte: 
Law4school (https://www.law4school.de/index.htm )
BundesJugendKonferenz Medien (https://bjkm.de )
BundesAusbilderKonferenz Medien (https://praeventionsverein-medien.de/bakm/ )
Medienscout-Portal (https://medienscout-portal.de/ )
Medienkompetenz-Siegel (https://medienkompetenz-siegel.de/ )

 

Prof. Dr. Judith Ackermann

12. Zwischenruf: 06. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Judith Ackermann
„Durch Perspektivwechsel Ressourcen aktivieren für die Gesunderhaltung“

Heute ist Montag, der 6. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an den DPT-Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Dr. Judith Ackermann, Professorin für Digitale Medien in der Sozialen Arbeit an der FH Potsdam. Frau Ackermann leitet aktuell zwei vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderte Projekte: Unter dem Kürzel DISA geht es einerseits um „Digitale Inklusion im Kontext Sozialer Angststörungen“ und andererseits um das Projekt PKKB „Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung – Ästhetische Begegnungen zwischen Aneignung, Produktion und Vermittlung“.

Frau Ackermann, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, auch vor dem Hintergrund Ihrer aktuellen Forschungen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

In Momenten, in denen das Thema Krankheit so stark im Fokus steht, wie jetzt gerade der Fall, gilt es unser Augenmerk stärker auf Gesundheit und Gesunderhaltung zu richten. Wir müssen unsere Perspektive verschieben. Durch die Corona-Pandemie stehen wir als Gesamtgesellschaft vor sehr großen Herausforderungen und Veränderungen in Bezug auf unsere Lebensführung. Dinge, die wir noch vor einigen Wochen, als selbstverständlich erachtet haben, sehen wir auf einmal in Frage gestellt. Sicherheiten, mit denen wir sozialisiert sind, brechen weg. Wir beobachten wie sich das Bildungssystem, die Wirtschaft, die Mobilität und unser Zusammenleben mit jedem Tag weiter verändern. Und das als Reaktion auf einen Gegner, den wir nicht recht fassen können. Das Virus ist im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar. Es bleibt abstrakt. Wir wissen nicht, wer es in sich trägt und wo es uns begegnen könnte. Das setzt uns unter Stress und erzeugt Ängste. Die Situation scheint sich jeglicher Kontrolle durch den bzw. die Einzelne zu entziehen. Dies führt zu einer hohen Grundspannung, welche mitunter die Schwelle zu Wut oder unberechenbarem Verhalten senken kann. Der erlebte Kontrollverlust kann Handlungen hervorrufen, die durch Übertritte von Normen versuchen eine Selbstwerterhöhung zu erzielen. Situationen mit so hoher psychischer Belastung wie die vorliegende, können Tendenzen des „Ausbrechens“ erzeugen, diese können etwa selbstverletzendes oder gar tötendes Verhalten beinhalten oder auch Rebellion gegen das System und die Flucht in Verschwörungstheorien. In diesem Sinne würde ich die psychische Stabilisierung aktuell als einen besonders wichtigen Präventionsaspekt ansehen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Die Coronakrise stellt eine große Herausforderung nicht nur für unsere körperliche, sondern auch für unsere psychische Gesundheit dar. In ihrem Ausmaß ist sie für den menschlichen Verstand kaum greifbar. Das kann dazu führen, dass wir wie gelähmt vor der sich immer weiter fortschreibenden Nachrichtenlage sitzen und ein Ohnmachtsgefühl erleben. Das führt natürlich in der aktuellen Situation auf mehreren Ebenen zu Problemen: einerseits wird es uns in der physischen Isolation teilweise verunmöglicht, unser Empfinden mit dem Anderer abzugleichen, auf der anderen Seite wird uns die Angst im außen immer wieder aufs Neue gespiegelt. Dies wird durch ein hohes Maß an Unsicherheiten verstärkt. So befinden sich beispielsweise die Handlungshinweise von Staat und WHO in einem beständigen Wandel. Was uns heute noch als okay vorkommt, kann morgen schon als unerwünschtes Verhalten gelten. So wurden beispielsweise die Regeln, welche Versammlung im öffentlichen Raum und körperliche Nähe betreffen, nach und nach immer drastischer und die anfangs noch geduldete Begrüßung via Ellbogen beispielsweise durch den Mindestabstand von 2 Metern ersetzt.

Die Spezifität unserer heutigen digitalen und vernetzten Medien kann den mit solchen Verunsicherungen verbundenen Stress zusätzlich befördern. In Echtzeit können Informationen geteilt und verbreitet werden. Alle großen und kleinen Nachrichtenportale halten Corona-Ticker auf ihren Webangeboten bereit, die minütlich aktualisiert werden können. Wir können Informationen aus allen Teilen der Welt mit nur einem Klick zu uns nach Hause holen. Das Prinzip der sich permanent aktualisierenden Timeline impliziert ein Gefühl davon, dass mit jeder Aktualisierung eine neue Veränderung eingetreten sein könnte.

Ähnlich verhält es sich mit den Zahlenzusammenstellungen des RKI auf dem sogenannten COVID-Dashboard. Hier können sich die Besucher*innen alle vorhandenen Informationen zu den Fallzahlen in Deutschland nach eigenen Interessen selbst zusammenstellen. Die Auswahlmöglichkeiten sind vielfältig und lassen somit eine längere Verweildauer zu. Dies kann mitunter zu einem gesteigerten Bedürfnis führen, alle Aktualisierungen mitverfolgen zu müssen. Hieraus kann eine lähmende Fixierung entstehen, da das Management der Informationen unser Kontrollbedürfnis anspricht, jedoch nicht zu einem erlösenden Moment der Ordnung führen kann, weil eben Informationen fehlen, noch nicht bekannt sind und dergleichen. Unser Ohnmachtsempfinden wird gestärkt.

Und wie kommt man da wieder raus?

Eine gute Strategie kann sein, das Großphänomen Corona in kleinere für einen selbst zu bewältigende Einheiten zu unterteilen: ein Beispiel hierfür ist es etwa, dass aktuell so viele Menschen Mundschutzmasken nähen und diese mit anderen teilen – nicht nur tatsächlich durch das Verschenken oder Verkaufen der Masken, sondern auch durch das Posten der Aktivitäten in digitalen Medien. Es entsteht eine Welle von Aktivität, die einen Beitrag zur Bewältigung der Situation leistet. Die Personen aktivieren ihre vorhandenen Ressourcen und erfahren diese als hilfreich und relevant für die aktuelle Krise. Dies findet sich nicht nur bei Einzelpersonen, sondern beispielsweise auch in Sektoren der Wirtschaft: Wenn Produktionsunternehmen, die eigentlich aus anderen Sparten stammen plötzlich Beatmungsgeräte und Schutzkleidung produzieren. Auf beiden Ebenen kommt es durch solche Handlungen zu einer Steigerung des Selbstwirksamkeitserlebens. Dies kann dem Ohnmachtsgefühl entgegenwirken und die psychische Stabilität steigern.

Empfehlen Sie noch weitere Strategien?

Auch in der kreativen Verarbeitung unserer eigenen Ängste und Ohnmachtsgefühle in Bezug auf die Corona-Pandemie können wir uns von diesen distanzieren und es schaffen, uns aus der Immersion der Situation zu lösen und sie neutraler zu betrachten. Das sehen wir beispielsweise aktuell häufig in der Vielzahl der TikTok-Videos die nicht nur Junge Menschen zur Zeit erstellen. An diesen lässt sich die zunehmende Verbreitung des Virus in der Welt und die Veränderung der individuell damit verbundenen Themen und Sorgen ablesen: Mit Tanz, Performance und auch kritischen Gedanken, verarbeiten Menschen ihre Eindrücke der Pandemie. Sie beschreiben das Leben im Quarantäne-Modus, das veränderte Einkaufsverhalten oder die Herausforderungen des Home-Office. Sie geben Tipps um fit zu bleiben und beim Homeschooling den Überblick zu behalten. In den sehr kurzen Clips finden sich häufig Überzeichnungen und Ironisierungen, die die emotionale Distanzierung stärken können. Dies ist ein wichtiges Prinzip, denn es ist ein zentrales Phänomen, dass je verstrickter und involvierter wir in eine Situation sind, es uns umso schwieriger fällt diese von außen zu betrachten. Wenn man Zahlen hört wie 100.000 Erkrankte allein in Deutschland, ist das zweifelsohne eine sehr große und beängstigende Zahl, wenn man diese auf den Prozentanteil an Menschen in Deutschland umrechnet, ist man noch lange nicht bei einem Prozent angelangt. Aus dieser Perspektive lässt sich die Situation wesentlich distanzierter betrachten.

Wichtig ist es, eine Normalisierung der Bedingungen innerhalb der Ohnmacht, und zwar innerlich und äußerlich, zu schaffen. Über die Stabilisierung der Einzelnen kann in weiterer Instanz auch die Gesellschaft re-stabilisiert werden. Und auf diesen Punkt müssen wir uns vorbereiten. Denn es wird die Zeit kommen, in der wir Isolation und Kontaktsperren nach und nach lockern und die Möglichkeit haben, das gesellschaftliche Zusammenleben, wie wir es kennen, wieder aufzunehmen. Bestenfalls sind wir an diesem Punkt psychisch gestärkt und können unsere neu gewonnenen Ressourcen in die Wieder- und Neugestaltung unserer Gesellschaft einbringen. Auf diese Weise hätte die Corona-Pandemie die Chance, durch ihre Wesenszüge als weitreichende Krise, die von uns gemeinschaftlich bewältigt wurde, ein verändertes Zusammenleben hervorzurufen.


Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Wir müssen unsere Perspektive verändern. Weg von der lähmenden Frontalaufsicht auf das Virus als Ganzes hin zu den kleinen Elementen, an denen wir selbst mit unserem Verstand und unseren Handlungen ansetzen können: wir können unsere Angst kreativ verarbeiten, Schutzmasken herstellen, Menschen in unserer Umgebung beim Einkaufen unterstützen oder Personen durch Gespräche über Telefon und digitale Medien Nähe schenken. Auf diese Weise aktivieren wir unsere eigenen Ressourcen und die der anderen, um unsere Möglichkeiten zu verbessern, im mehrfachen Sinne gesund aus der Situation herauszukommen.

Frau Ackermann, Danke für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.“

Weiterführende Hinweise und Links:

Informationen zum BMBF-Projekt „DISA – Digitale Inklusion im Kontext Sozialer Angststörungen“ gibt es hier: https://www.fh-potsdam.de/forschen/projekte/projekt-detailansicht/project-action/disa-digitale-inklusion-im-kontext-sozialer-angststoerungen/

Informationen zum BMBF-Projekt „PKKB – Postdigitale Kunstpraktiken in der Kulturellen Bildung – Ästhetische Begegnungen zwischen Aneignung, Produktion und Vermittlung finden sich hier https://pkkb.fh-potsdam.de/ und hier https://pkkb.fh-potsdam.de/blog/

„Die Tillerschwestern“ ist ein digital-partizipatives Kindertheater-Projekt in Zeiten der Corona-Pandemie, das Ende März von Signe Zurmühlen und Judith Ackermann ins Leben gerufen wurde. Es transformiert Elemente des Kindertheaters in den digitalen Raum und eröffnet einen Dialog zwischen Kindern und Darstellerinnen, aus dem sich die Geschichte in wöchentlichen Episoden laufend fortentwickelt. Es werden Themen wie Angst, Physical Distancing, Langeweile und Ressourcenaktivierung behandelt und dazu klassische Detektivfälle gelöst. Die Serie basiert auf dem gleichnamigen Kindertheaterstück, das 2014 Premiere am Horizont Theater Köln feierte. Infos hier: http://dietillerschwestern.de/

Dr. Miriam Damrow

11. Zwischenruf: 03. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Dr. Miriam Damrow
„Kinderschutz ist systemrelevant“

Kinderschutz ist systemrelevant
Dr. Miriam K. Damrow

Systemrelevanter Kinderschutz
In Zeiten des bundesweiten Lockdowns werden Hilfestrukturen und in vielen Fällen auch Hilfeprozesse ausgesetzt, die für schutzbedürftige Kinder essenziell sind. Nicht für alle Kinder kann gelten, dass sie in einem liebevollen Zuhause aufwachsen mit interessierten, fürsorglichen Eltern, die ihnen Schutz bieten. Die bisherigen etablierten Hilfestrukturen, Ansprechpartner und Prozesse sind mehr oder weniger abrupt zum Erliegen gekommen, durch die Schließung vieler Ansprechstellen und die daraus folgende (oftmals unzureichende Erreichbarkeit der Ansprechpartner, z.B. von Schulsozialarbeiter*innen) werden insbesondere jene Kinder massiv benachteiligt, die am dringendsten auf funktionierende Strukturen und Prozesse angewiesen sind. Vor dem Hintergrund der bekannten Langzeitfolgen erlittener physischer, psychischer und sexueller Gewalt bleibt unverständlich, wieso Kinderschutz nicht flächendeckend als systemrelevant eingeordnet ist. Zur grundlegenden Versorgung gehört ebenfalls Kinderschutz. Gerade vor dem Hintergrund der Fallzahlen sexueller Gewalt an Kindern und der Tatsache, dass sich sexuelle Gewalt an Kindern vorrangig im sozialen Nahraum des Kindes ereignet, dürfen schutzbedürftige Kinder nicht aus dem Blick geraten.

Kinderschutz oder Gesundheitsschutz?
Natürlich ist der Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden signifikant relevant, es wäre aber weitaus hilfreicher, flächendeckend auch in Zeiten eingeschränkter Erreichbarkeit so schnell als möglich Prozesse und Strukturen zu entwickeln, die gefährdete Kinder (überhaupt) schützen. Die Abwägung von Gesundheitsschutz vor (bzw. überspitzt: gegen) Kinderschutz erscheint vor diesem Hintergrund fatal, darf aber auch nicht zum Gegenteil verführen. Ideal wäre eine Synopse beider Dimensionen. Hier sind dringend Möglichkeiten zu schaffen, Kinderschutz auch weiterhin flächendeckend und umfassend zu gewährleisten: Kinder sind im Hinblick auf sexuelle Gewalt in ruralen Kontexten wahrscheinlich ebenso gefährdet wie in urbanen Kontexten. Zudem können sich soziodemographische Faktoren im Moment stärker auswirken, ohne dass Puffer zur Verfügung stehen. Dies betrifft zum Beispiel Konstellationen, in denen Kinder sich niemandem anvertrauen können, wenn sie nicht alleine und ungestört telefonieren können, wenn die Internetverbindungen schwach, störanfällig oder kaum vorhanden sind, wenn alleiniger und ungestörter Zugang zu Geräten nicht möglich ist (bzw. wenn in den Haushalten entsprechende Geräte nicht zur Verfügung stehen).

Was könnte / würde helfen?
Hilfreich könnten zur Erreichung dieser vulnerablen Kinder Maßnahmen massenmedial geschalteter Werbung (z.B. der kostenlosen Hotline Nummer gegen Kummer,  https://www.nummergegenkummer.de/) bzw. erhöhter Präsenz in sozialen Medien sein, die gleichzeitig zur Sensibilisierung beitragen (ein Beispiel zur Realisierung findet sich bei der Internetpräsenz des Unabhängigen Beauftragten, https://beauftragter-missbrauch.de/).

Kontaktdaten:
Dr. Miriam K. Damrow, Institut für Medizinische Psychologie, Walther-Rathenau-Str. 48, 17475 Greifswald, miriamkristina.damrow@med.uni-greifswald.de
https://www2.medizin.uni-greifswald.de/medpsych/index.php?id=560

Prof. Dr. Martin Schairer

10. Zwischenruf: 01. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Dr. Martin Schairer
„Die "Blaulichtgruppen" wertschätzen!“

Heute ist Mittwoch, der 1. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich sehr über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention. Zu unserem heutigen Zwischenruf begrüße ich den Ordnungsbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart, Herrn Dr. Martin Schairer. Herr Dr. Schairer hat sich über viele Jahrzehnte in unterschiedlichen Leitungsfunktionen mit Sicherheitsfragen in der Prävention befasst. Als Jurist hat er nicht nur in der Justiz gearbeitet, sondern hat auch viele Jahre als Polizeipräsident und wirkt im Ehrenamt als Vizepräsident des europäischen Forums für urbane Sicherheitsfragen (EFUS) und des deutschen Forums (DEFUS). Herr Schairer erstmals begrüße ich Sie herzlich zu diesem Zwischenruf und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte aus dieser Tätigkeit heraus besonders wichtig erscheinen:

Lieber Herr Marks und liebe Hörer, ich begrüße Sie auch. Besonders wichtig erscheint mir die Arbeit der sogenannten Blaulichtgruppe. Sie ist im Augenblick das Rückgrat der Daseinsvorsorge in der Corona-Krise. Die Blaulichtgruppe, was stellt man sich darunter vor? Das sind all diejenigen, die mit Blaulicht unterwegs sind: die Polizei, die Feuerwehr, das DRK, die Johanniter, die Malteser, der Arbeitersamariterbund (ASB), der THW und noch viele andere mehr.

Und was ist Ihr zentrales Anliegen mit Blick auf die, wie Sie sagen „Blaulichtgruppe“?

Die Blaulichtgruppe ist im Moment unverzichtbar für uns. Ich darf kurz schildern, was sie im Moment leistet: Wir richten sogenannte Quarantänehäuser ein. Wir mieten Hotels an, um Menschen unterzubringen, die in Quarantäne müssen. Auch müssen die Infizierten von den übrigen Personen getrennt werden. Dafür brauchen wir Unterbringungsmöglichkeiten. Die Frage stellt sich dabei, wer betreibt diese Hotels und Krankenhäuser? Eben die Blaulichtgruppe. Das THW ertüchtigt manche dieser Häuser, weil diese teilweise lange leer gestanden haben. Dann gibt es die sogenannten Fieberambulanzen, die wir überall in den Städten in der Bundesrepublik haben. Sie prüfen ihre Besucher, ob sie coronaverdächtig sind oder nicht. Auch diese werden von diesen Blautlichtgruppen betrieben. Und diese Arbeit gilt es nun Wert zu schätzen. Warum, werden Sie jetzt fragen, Herr Marks. Ja, es liegt einfach daran, dass in den letzten Jahren wir leider feststellen mussten, dass die Wertschätzung dieser Berufsgruppen stark gesunken ist. Zugeparkte Rettungswege, Gewalt gegen Polizeibeamte und Rettungshelfer sind an der Tagesordnung und werden überall beklagt, nicht ausreichende Rettungsgassen auf den Autobahnen, Behinderung der Retter durch Gaffer, durch Handyfilmer. Diese Auffälligkeiten sind inzwischen leider an der Tagesordnung. In dieser großen Krise, zeigt es sich nun aber, wie wertvoll und wichtig diese Berufsgruppen sind, und zwar im Hauptamt, wie auch im Ehrenamt. Ich finde, das ist einfach ein Zwischenruf wert. Er soll daran erinnern, wie wichtig diese Blaulichtgruppen sind, dass man ihnen Platz macht, dass man sie Wert schätzt und dass man ihnen hilft.

Da machen wir mal ein Ausrufezeichen dahinter. Da Sie den Blick zurückgeworfen haben, wonach wir in der Vergangenheit häufig nicht vernünftige und angemessene Wertschätzung gezeigt haben, möchte ich Sie fragen: Wie schätzen Sie überhaupt die Präventionsarbeit ein in der Vergangenheit, in Bezug auf Pandemien und solche Katastrophen? War sie ausreichend oder nicht? Ich meine die Krise als solche konnte man natürlich nicht vorbereiten, aber das eine oder andere vielleicht doch.

Auf eine Pandemie vorbereitet zu sein, ist eine riesige Herausforderung. Wir in Stuttgart hatten uns schon mal vor über 10 Jahren auf eine Pandemie vorbereitet. Wir haben sehr viele Ausrüstungsgegenstände eingelagert und man hat darüber gelacht. Aber im Verhältnis zu Europa, vielleicht auch zum Großteil der Welt, ist Deutschland als ein Land mit einer hohen Organisationsstruktur und auch einer guten Blaulichtstruktur noch am besten vorbereitet. Aber was wir sträflich vernachlässigt haben, nach Beendigung des Kalten Krieges, ist die Katastrophenschutzvorsorge. Und da sind wir im Moment dabei, nachzusteuern. Denken Sie an die aktuelle Maskendiskussion in den Pflegeheimen, an diejenigen Menschen, die sich um Infizierte kümmern, auch an diejenigen Menschen, die die Daseinsvorsorge aufrechterhalten müssen, z.B. die Müllmänner, die Polizeibeamten, die Rettungssanitäter in den Rettungsfahrzeugen. Wie können wir die schützen, wo sind die Masken, wo ist die Schutzkleidung? Und da haben wir natürlich Defizite. Daraus müssen wir auch Schlüsse ziehen für die Zukunft.

Da ist noch eine kleine Nachfrage zu stellen. Haben Sie jetzt schon einen Merkzettel angelegt, was unter Präventionsgesichtspunkten dringend zu beschaffen ist und zu regeln ist, wenn wir den großen Peak der Krise überwunden haben?

Auf jeden Fall, auf dem Zettel steht das große Thema der Gesundheitsfürsorge. Ich erinnere an das große Thema Impfen. Es ist notwendig, sich rückzubesinnen, was Impfung eigentlich bedeutet. Viele Menschen haben sich nicht mal mehr gegen Grippe impfen lassen! Dann wird daraus zu deuten sein, die Katastrophenschutzstrukturen wieder auszubauen. Bei den Behörden sollte man überhaupt mal wieder Krisen üben. Die Menschen haben sich zu lange in Sicherheit gewiegt.

 

Wir betonen nochmal zum Schluss gemeinsam das Ausrufezeichen, und zwar den Dank an all diejenigen, die in den von Ihnen erwähnten speziellen Blaulichtgruppierungen arbeiten und ich danke Ihnen sehr herzlich, lieber Herr Schairer, für diesen Zwischenruf und wie immer sage ich: Bleiben Sie gesund!

 

Prof. Dr. Martin Rettenberger

9. Zwischenruf: 01. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Martin Rettenberger
„Krisenbewältigung braucht Kreativität – auch und gerade im Bereich der Kriminalprävention“

 

Heute ist Mittwoch, der 1. April 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professor Dr. Martin Rettenberger, Direktor der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ) und Professor für Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU). Die KrimZ mit Sitz in Wiesbaden ist die zentrale Forschungs- und Dokumentationseinrichtung des Bundes und der Länder für kriminologisch-forensische Forschungsfragen.
Herr Rettenberger, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Gesellschaft und Politik befinden sich zweifelsohne in einem Ausnahmezustand und die Bewältigung der Corona-Pandemie führt viele Bürgerinnen und Bürger sowie ganze Länder an die Grenzen der Belastbarkeit. Es ist aus vielen Gründen völlig nachvollziehbar, dass gesundheitspolitische und wirtschaftswissenschaftliche Aspekte im Vordergrund zu stehen haben. Gleichzeitig sollten Kriminalität und ihre Prävention nicht aus den Augen verloren werden, gerade weil Krisen und stürmische Zeiten oft neue Herausforderungen im Bereich der Kriminalprävention mit sich bringen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Es ist aus meiner Sicht positiv zu bewerten, dass in den vergangenen Tagen vermehrt über aktuelle Kriminalitätsphänomene berichtet wurde, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auftreten können. Die Kriminologie kennt die kreative Energie der Kriminalität nur allzu gut und es ist allgemein bekannt, dass die Strafverfolgungsbehörden, die Wissenschaft und sämtliche Präventionsakteure immer einen Schritt hinterher sind – ja, sein müssen: Zuerst müssen die negativen Ereignisse erkannt und benannt werden, bevor sie wirksam verhindert werden können. In Anbetracht der aktuellen Situation müssen wir allerdings vergleichsweise schnell reagieren und haben nicht Monate oder gar Jahre Zeit, bis wir wirksame Programme entwickelt und evaluiert haben. 
Kriminalitätsbereiche, die gegenwärtig besondere präventive Aufmerksamkeit bekommen sollten, sind beispielsweise Kriminalität gegen ältere Menschen, die aufgrund der jüngsten Einschränkungen sozialer Kontakte ein höheres Risiko besitzen, Opfer von Betrugsdelikten zu werden. Gleiches gilt für die verschiedenen Formen des Onlinebetrugs und der Wirtschaftskriminalität, auch und gerade durch die – aus nachvollziehbaren Gründen – oftmals überhastete Einrichtung von unvorbereiteten Home Office-Arbeitsplätzen. Zuletzt sei auf die bereits in „normalen“ Zeiten immer noch viel zu hohen Kriminalitätsraten im Bereich der häuslichen Gewalt verwiesen, die derzeit und in den kommenden Wochen deutlich ansteigen werden.
Viele dieser aktuellen Kriminalitätsphänomene sind nicht neu, sie verlangen jedoch nach schnellen Lösungen und mahnen uns, dass wir einzelne Herausforderungen der Kriminalprävention stärker als bisher anpacken sollten: Dazu gehören unter anderem die weitere Erprobung und Ausbau onlinebasierter und telemedizinischer Unterstützungsangebote sowie die Entwicklung und Evaluation krisenfester Interventionsformen, die auch in Zeiten einer solchen Pandemie einsatzfähig bleiben.
Zuletzt möchte ich auf eine Gruppe bzw. eine Institution hinweisen, die bislang überhaupt keine Beachtung fand und die von einem Ausbruch bzw. Ansteckung besonders betroffen wäre bzw. besondere Herausforderungen zu bestehen hätte: die Institutionen des Justizvollzugs, also Gefängnisse oder Kliniken für Forensische Psychiatrie. Die Einschränkungen von Besuchsmöglichkeiten, von Ausführungen und Ausgängen bedeuten für inhaftierte Personen einen massiven Einschnitt in ihrem Alltag, der ohnehin schon immer in extremer Form von sozialer Distanzierung geprägt war. Gleichzeitig stehen die Justizbehörden vor der riesigen Herausforderung, einen Ausbruch der Krankheit mit allen Mitteln zu verhindern, da die anschließend notwendigen Maßnahmen im Justizvollzug riesige Belastungen mit sich brächten.  

Abschließend wäre ich Ihnen noch dankbar für eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Zwischenruf.

Krisenbewältigung braucht Kreativität – auch und gerade im Bereich der Kriminalprävention. Wir sehen derzeit verschiedene kriminalitätsbezogene Herausforderungen auf uns zukommen, die nach wirksamen präventiven Maßnahmen verlangen. Es kommt dabei auf alle Vertreterinnen und Vertreter kriminalpräventiver Arbeitsbereiche an, damit wir die derzeitige Krisensituation möglichst gut überstehen werden.
Damit das gelingt, sollten wir aktuell und in Zukunft verstärkt nach neuen und innovativen Möglichkeiten der Intervention und Prävention suchen, sie erproben und ihre Wirksamkeit wissenschaftlich untersuchen.
Und da wir gerade – völlig zu Recht – viel über die Leistungen von Heldinnen und Helden des Alltags sprechen, sollten wir unsere kriminalpräventiven Alltagsheldinnen und -helden nicht vergessen, zum Beispiel die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe oder in den Einrichtungen des Justizvollzugs, die trotz aller Krisensorgen weiterhin ihrer immens wichtigen Arbeit nachgehen.

Prof. Dr. Martin Rettenberger
Direktor der Kriminologischen Zentralstelle (KrimZ)
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Joachim Schneider

8. Zwischenruf: 01. April 2020

Erich Marks im Gespräch mit Joachim Schneider
„Kriminalprävention schafft Handlungssicherheit und stärkt das Sicherheitsgefühl, das macht sie in Krisenzeiten wichtiger denn je.“

 

Heute ist Dienstag, der 31. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Joachim Scheider, den Geschäftsführer der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes, häufig auch kurz ProPK genannt. Herr Schneider ist leitender Polizeibeamter und seit vielen Jahren ein national und europäisch gut vernetzter Kenner der polizeilichen Kriminalprävention.

Herr Schneider, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsfragen ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen:

Unsere Arbeit hat sich nicht verändert, allerdings – wie bei so vielen – die Rahmenbedingungen. Viele Kolleginnen und Kollegen befinden sich im Homeoffice. Virtuelle Plattformen und Arbeitsräume für Gruppen, Telefonkonferenzen und jede Menge Emails prägen unseren Tagesablauf.

Aber wir haben uns organisiert und sind weiter damit befasst, Themen und Entwicklungen möglichst frühzeitig zu antizipieren oder zumindest sofort zu reagieren, wenn neue oder veränderte Kriminalitätsformen auftreten. Dann ist unser Credo, so schnell wie irgend möglich – oft zusammen mit Netzwerkpartnern – wirkungsvolle Präventionstipps und -medien zu entwickeln und diese natürlich an die jeweiligen Zielgruppen zu kommunizieren. Damit unterstützen wir auch die Arbeit unserer Kolleginnen und Kollegen vor Ort im ganzen Bundesgebiet.

Ein besonderes Augenmerk – gerade in der aktuellen Situation – legen wir auf die Balance, den Bürgerinnen und Bürgern Sicherheit zu vermitteln und nicht noch zusätzlich Sorgen und Ängste zu verbreiten. Zugegeben nicht immer ganz einfach, denn mit der aktuellen Situation haben sich auch Erscheinungsformen der Kriminalität verändert.

Die Menschen sind zu Hause. Damit rücken die Haustüre, das Telefon oder die digitale Welt als Tatorte verstärkt in den Fokus. Skrupellose Betrüger machen sich die Sorgen der Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Corona-Virus schamlos zunutze.

Können Sie hierfür vielleicht einige Beispiele nennen?
Nun, da hat es beispielsweise

  • falsche Mitarbeiter des Gesundheitsamtes geben an, direkt an der Haustür gegen eine Gebühr Corona-Soforttests durchführen zu können
  • Betrüger nutzen Hilfsnetzwerke zur Unterstützung für Hilfebedürftigen aus
  • Betrügerische Internetshops verkaufen überteuerte und oft unwirksame Schutzmittel wie Atemschutzmasken, Desinfektionsmittel, etc.
  • Betrügerische Nachhilfelehrer verlangen horrende Preise für Unterrichtseinheiten
  • Vermeintliche Enkel verlangen Geld für Corona-Behandlungskosten
  • gefälschte Internetplattformen gaukeln vor, dass sie bei der Antragstellung für finanzielle Unterstützung im Rahmen des Sofortprogramms der Bundesregierung unbürokratisch unterstützen. Tatsächlich wollen die Betrüger lediglich die personenbezogenen Informationen einschließlich der Bankdaten abgreifen.
  • Betrüger versuchen, mit so genannten Phishing Mails über angebliche Spendenaufrufe, Filialschließung von Banken, etc., an die Kontodaten und Passwörter von Bürgerinnen und Bürgern zu kommen

Aber auch die heimische Wohnung als Ort von Gewalt oder Einsamkeit sind Themen, die uns im Moment verstärkt beschäftigen.

Die gerade in räumlicher Enge und Isolierung bestehenden Gefahren werden in diesen Tagen von vielen Medien, Organisationen und Experten beschrieben:

Ja, wir haben ja auch in vorherigen Zwischenrufen bereits kriminologische und soziologische Hintergründe dazu gehört, warum aktuell auch die Zunahme von Fällen der Gewalt im sozialen Nahraum erwartet werden. Bei uns finden Sie hilfreiche Informationen, wie Gewalt vermieden und auch ein Ausweg aus der Gewaltspirale gefunden werden kann.

Auch die Einsamkeit treibt manche in die Arme von Betrügern. Über die sozialen Medien oder das Internet nehmen diese Kontakt zu den Opfern auf. Sie gaukeln wortreich und scheinbar mit seriösen Bildern und Belegen die große Liebe vor, um im weiteren Verlauf um Geldüberweisungen wegen dringenden Operationen, zu zahlenden Kautionen, Kosten für Reisen etc. zu bitten, die leider allzu oft getätigt werden. Dieses Phänomen nennt sich „Romance Scamming“. Ich würde es ins Deutsche übersetzen mit: heiß umgarnt und eiskalt abgezockt.

Eine unglaublich breite und sehr dynamische Vielfalt an Themen. Zu allen finden Sie tagesaktuelle Informationen und wirkungsvolle Tipps zum eigenen Schutz auf unserer zentralen Internetseite www.polizei-beratung.de. Darüber hinaus besteht auch die Möglichkeit, über ein Kontaktformular oder die Internetwachen der Polizei der Länder Kontakt mit uns aufzunehmen.

Herr Schneider, Was ist deshalb Ihr zentrales Anliegen dieses Zwischenrufes?

Wir wollen damit den vielen Kolleginnen und Kollegen eine Stimme geben und auch DANKE sagen dafür, dass sie 24/7 für Sicherheit sorgen, vor Ort bei den Bürgerinnen und Bürgern, bei dringenden Ermittlungen, in den Planungsstäben und insbesondere auch in der Prävention.

Gerade in Zeiten wie jetzt, in denen es viele Fragen und nicht immer Antworten gibt, dürfen und müssen die Bürgerinnen und Bürger sich auf ihre Polizei verlassen und ihr vertrauen können. Wir sind auch in der aktuellen Krise nach wie vor ganz eng am Geschehen, agieren und reagieren schnell und professionell und stehen jederzeit mit Rat und Tat zur Seite. Sie finden bei uns immer aktuelle und vor allem zuverlässigen Informationen und Hinweise, wie Sie sich schützen und anderen helfen können oder auch was zu tun ist, wenn etwas passiert ist.

An dieser Stelle möchte ich nun doch noch einmal konkret nachfragen und Sie bitten, uns in wenige Worten zu erklären, wer und was ist das ProPK eigentlich?

Die Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes ist ein Verbund aller Polizeien in Deutschland in Fragen der Kriminalprävention. Unsere zentrale Geschäftsstelle befindet sich beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Dort arbeiten PolizeibeamtInnen, JournalistInnen und Wissenschaftler Hand in Hand in Themen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung. 

In der Sicherheitsarchitektur des Bundes sind wir der Innenministerkonferenz und dort dem Arbeitskreises II (Innere Sicherheit) angegliedert.

Gemeinsam und interdisziplinär vernetzt entwickeln wir in bundesweiten Projektgruppen Konzepte, Medien und Initiativen, die über Kriminalität aufklären und Schutzempfehlungen vermitteln.

Sie finden bei uns aktuell über 170 Produkte rund um die Kriminalprävention, die kostenlos bundesweit abgerufen werden können. Im vergangen Jahr übrigens rund 3,5 Millionen Mal.

Zudem betreiben wir selbstständig Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu allen Kriminalitätsthemen.

Zum Abschluss wäre ich Ihnen für eine kurze Zusammenfassung Ihres heutigen Zwischenrufes dankbar:

Insbesondere ein Appell an die Bürgerinnen und Bürger ist uns wichtig: Wegschauen ist, wie auch falsche Scham, keine Lösung. Hinschauen und handeln, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, ist das Gebot der Stunde für Menschen, die etwas Auffälliges wahrnehmen. Für diejenigen, die Opfer geworden sind, schlagen wir die Brücke zu professioneller Hilfe wie z. B. dem WEISSEN RING. Jede Anzeige hilft nicht nur uns, die Kriminellen schnell dingfest zu machen Sie verhindert auch, dass weitere Menschen Opfer derselben Täter werden und damit viel Leid erfahren. Sechs ganz einfache Tipps für (mehr) Zivilcourage finden Sie bei unserer „Aktion Tu Was“.

Herr Schneider, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Präventions-Zwischenruf und bleiben Sie gesund!

Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK)
www.polizei-beratung.de

Prof. Dr. Ulrich Wagner

7. Zwischenruf: 30. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Ulrich Wagner
„Der Umgang mit der Corona Pandemie als Präventionsarbeit“

Heute ist Montag, der 30. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professor Dr. Ulrich Wagner. Herr Wagner war bis 2017 Inhaber der Professur für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg. Er beschäftigt sich mit Intergruppenkonflikten und Gewaltprävention sowie der Evaluation von Interventionsmaßnahmen und berät verschiedene Präventionsprojekte.

Herr Wagner, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Die gegenwärtige Krise berührt uns alle in unserem Alltag eindrucksvoll. Als Bürger und Wissenschaftler, der sich mit Prävention beschäftigt, begleitet man den politischen und medialen Umgang mit der Krise natürlich auch neugierig und kritisch.

Der politische Umgang mit Corona ist in weiten Bereichen Präventionsarbeit, indem man versucht, der weiten und unkontrollierten Ausbreitung der Krankheit vorzubeugen. Einige Dinge fallen dabei auf, aus denen wir auch in anderen Bereichen der Prävention lernen können.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Erstens, Prävention braucht präzise und nachvollziehbare Verhaltensanweisungen. Das ist in der Kommunikation in Zusammenhang mit Corona allerdings noch verbesserungsfähig. Politik und Medien sprechen austauschbar von Ausgangssperre, Ausgangsverbot, Quarantäne, zu Hause bleiben, usw. Auch kursierte immer wieder der unsinnige Aufruf, soziale Kontakte zu meiden. Die Botschaft ist doch eigentlich einfach: 1.5 Meter physischen Abstand zu Menschen, die nicht zum eigenen Haushalt gehören, und Orte, an denen das nicht möglich ist, sind zu meiden. Eine solche Abstandsregelung ist nachvollziehbar, umsetzbar und ordnungsrechtlich durchzusetzen.

Zweitens, Prävention braucht eine wissenschaftliche Basis. Prävention hat besondere Aussichten auf Erfolg, wenn sie mit empirisch gut abgesicherten Theorien begründet werden kann, die z.B. sagen, wenn ich heute physischen Abstand wahre, kann ich wissenschaftlich fundiert annehmen, dass das die Ausbreitung des Virus verlangsamen wird. Im Umgang mit der Corona-Krise scheint mir dieses Prinzip der Orientierung an der Wissenschaft, speziell der Epidemiologie, im Grundsatz vorbildlich. Allerdings sehe ich in diesem Zusammenhang auch z.T. fatale Schwächen.

Eine der Schwächen ist - und das ist mein dritter Punkt - dass die Voraussetzungen für eine notwendige Prozessevaluation nicht geschaffen wurden. Präventiv zu intervenieren mit dem Ziel, ein Übel wie die Corona-Pandemie einzudämmen, setzt voraus, dass möglichst zeitnah kontrollierbar ist, ob die eingesetzte Maßnahme, also die Abstandsregelung, wirklich erfolgreich ist und die Zahl der Neuinfektionen tatsächlich reduziert. Wie wir jetzt erfahren müssen, sind solche Formen der Prozess- und Effektevaluation gegenwärtig nur sehr eingeschränkt möglich, weil es an hinreichend zuverlässigen Indikatoren fehlt: Die Zahl der Neuerkrankungen wird nicht systematisch erfasst; viele Menschen haben das Virus vermutlich schon überstanden, ohne davon zu wissen, und selbst aktuell wird die Empfehlung ausgesprochen, bei leichten Krankheitssymptomen in die häusliche Quarantäne zu gehen, ohne dass das Vorliegen von Corona medizinisch zuverlässig festgestellt wird. Das kann man unter dem gegenwärtigen Situationsdruck pragmatisch für nachvollziehbar halten, für eine effektive Steuerung von Maßnahmen ist ein solcher Blindflug sehr problematisch.

Einen vierten Punkt möchte ich unter Präventions- und Evaluationsaspekten noch ansprechen: Das ist die Beachtung unintendierter Nebeneffekte. Jede Intervention wie die Abstandsregelung muss nicht nur darauf hin überprüft werden, ob sie wirkt, also die Infektionsraten senkt, sondern auch daraufhin, ob sie Effekte nach sich zieht, die unerwünscht oder gar gefährlich sind. Die gegenwärtigen Maßnahmen zur Eindämmung von Neuinfektionen sind erfreulicherweise in starkem Maße von epidemiologischen Erkenntnissen geprägt, das Problem ist allerdings die Einengung der Perspektive. Neben epidemiologischen Theorien kommen bestenfalls noch wirtschaftswissenschaftliche Überlegungen für die Ausgestaltung von Maßnahmen gegen Corona ins Spiel. Psychologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse bleiben weitgehend unberücksichtigt. Dabei wissen die Psychologie und die Sozialwissenschaften, dass dauerhafte physische Isolierung gefährliche individuelle und soziale Nebeneffekte nach sich zieht, wie Vereinsamung, Depressionen, Verzweiflung, Widerstand, Panik und Gewalt. Und solche Effekte beeinträchtigen unterschiedliche Teile der Bevölkerung in unterschiedlichem Maße, wie z.B. Kinder, die in ihrem Bewegungsdrang eingeschränkt werden, und alte Menschen, z.B. in Altenheimen. Auch das sind Gesichtspunkte, die bei der Frage der Etablierung und der angemessenen Dauer der Beschränkung von physischen Kontakten mit einbezogen werden müssen.

Abschließend wäre ich Ihnen noch dankbar für eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Zwischenruf.

Das Abwägen von positiven und negativen Konsequenzen einer präventiven Intervention wie der Abstandsregelung ist nicht mit mathematischen Durchschnittsmodellen möglich, das ist eine Wertentscheidung. Die Verantwortung für die Abwägung liegt deshalb auch nicht in der Wissenschaft, sondern in der Politik, die die wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Epidemiologie und auch aus der Psychologie sorgfältig zur Kenntnis nehmen und auf dieser Basis dann entscheiden muss.

Insgesamt komme ich zu dem Schluss, dass der gegenwärtige Umgang mit der Corona-Krise durchaus viele positive Aspekte einer evidenzbasierten Politik aufweist. Gleichzeitig muss man aber auch feststellen, dass es durchaus noch Schwächen in der Kommunikation, der Datenbasis und der Breite der Perspektive bei der Abschätzung der Effizienz von Maßnahmen gibt, die dringend und umgehend ausgeglichen werden müssen.

Herr Professor Wagner, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Präventions-Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Kontakt:
wagner1@uni-marburg.de

Neuerscheinungen
P. Hagenaars, M. Plavsic, N. Sveaass, U. Wagner, & T. Wainwright (2020 April). Human Rights education for psychologists. Routledge: London.

Wagner, U., Tachtsoglou, S., Kotzur, P.F., Friehs, M.T., & Kemmesies, U. (2020 June). Proportion of foreigners negatively predicts the prevalence of xenophobic hate crimes within German districts. Social Psychology Quarterly.

Wagner, U., Friehs, M.T., & Kotzur, P.F. (2020 im Druck). Das Bild der Polizei bei jungen Studierenden. Polizei und Wissenschaft.

 

Prof. Dr. Hans-Gerd Jaschke

6. Zwischenruf: 26. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Hans-Gerd Jaschke
„Es gilt auch zu überlegen, wie einer dauerhaften Schwächung der Demokratie begegnet werden kann“

Heute ist Donnerstag, der 26. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.
Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professor Dr. Hans-Gerd Jaschke. Herr Jaschke ist Politikwissenschaftler, ausgewiesener Forscher und Autor zu verschiedenen Themen der inneren Sicherheit und berät unter anderem das Bundeskriminalamt in Extremismusfragen.

Herr Jaschke, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Nun, vor dem Hintergrund der Corona-Krise schaut alle Welt auf medizinische Versorgung, den Wirtschaftseinbruch und die Möglichkeiten der Politik, auf diesen Feldern gegenzusteuern. Das ist auch notwendig und richtig. Dabei wird ein Aspekt aber häufig übersehen, nämlich die Krise der Demokratie. Sie wird überdeckt vom Tatendrang von Politikern, die sich als Krisenmanager betätigen und, unterstützt von der Expertokratie der Virologen, den Ausnahmezustand beschwören.

Und worin besteht die „Krise der Demokratie“?

In der Stunde der Exekutive sind Grundrechte wie Bewegungsfreiheit, Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit eingeschränkt oder gar aufgehoben worden. Das Parlament nickt Gesetze innerhalb weniger Stunden oder Tage ab, eine parlamentarische Opposition scheint es kaum noch zu geben. Das alles mag berechtigt sein aus Gründen der Effektivität zur Bekämpfung des Corona-Virus. Aber es ist auch Ausdruck einer nicht mehr stabilen Demokratie. Das kann zu fatalen Konsequenzen führen. Rechtsextremistische gewaltbereite Gruppen beispielsweise könnten durch eine Anschlagserie die – aus ihrer Sicht - Gunst der Stunde nutzen und weiter destabilisieren bei ihrem Bemühen, die Demokratie loszuwerden. Eine andere Konsequenz könnte darin bestehen, auch nach der Corona-Krise die Exekutive zu stärken und die Grundrechte zu beschneiden aus Gründen eines effektiven und schnelleren Durchregierens in Krisenzeiten. Das alles sind Alarmzeichen!

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Natürlich hat die Bekämpfung des Virus und die Milderung der wirtschaftlichen Folgen höchste Priorität. Aber es gilt auch zu überlegen, wie einer dauerhaften Schwächung der Demokratie begegnet werden kann. Es ist nicht nur wichtig, auf Grundrechte und Gewaltenteilung zu bestehen, es geht auch darum, aus der Zivilgesellschaft heraus die Demokratie zu schützen, denn sie steht seit einigen Jahren unter erheblichem Druck. Rechtspopulistische Bewegungen arbeiten weltweit und ohne größere Widerstände in der Bevölkerung schon länger daran, Demokratien in Autokratien zu verwandeln – siehe Ungarn, Polen, die USA oder Brasilien. Der hohe Wert von Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Verantwortlichkeit der Regierung muss daher mehr und dauerhafter auf der Tagesordnung stehen. Hier ist politische Bildung ein zentraler Schlüssel für Prävention und Intervention. Voraussetzung einer gelebten Demokratie, die sich nicht nur als „Schönwetterdemokratie“ in krisenarmen Zeiten präsentiert, ist das Engagement der Bürger für ihre Werte und das kann durch politische Bildung besser auf den Weg gebracht werden.

Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Die Corona-Krise hat nicht nur gesundheitliche und wirtschaftliche Aspekte. Zu den Herausforderungen gehört auch, die Krise der Demokratie realistisch zu erkennen: Grundrechte und Gewaltenteilung sind bedroht, rechtspopulistische und rechtsterroristische Kreise könnten sich dies zunutze machen. Gefragt ist politische Bildung als präventives Instrument zur Stärkung von Demokratie und Zivilgesellschaft.

Kontakt:
hans.jaschke@hwr-berlin.de

Neuerscheinung:
Politischer Extremismus,
überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage (Erstauflage 2006),
erscheint im Herbst 2020 im VS-Verlag, Wiesbaden.

 

Prof. Dr. Rita Haverkamp

5. Zwischenruf: 24. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Rita Haverkamp
„Kontaktverbote - was sie für Jugendliche und marginalisierte Gruppen bedeuten“

Heute ist Dienstag, der 24. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über Ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Frau Prof. Dr. Rita Haverkamp. Frau Haverkamp ist Juristin und Kriminologin und hat seit Oktober 2013 die deutschlandweit einzige Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement an der Universität Tübingen inne.

Frau Haverkamp, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie zunächst fragen, welche Präventionsaspekte Ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen?
Der Umgang mit dem Coronavirus hat uns im Griff. Als gesundheitliche Präventionsmaßnahme ist „soziale Distanzierung“ das Schlagwort der Stunde. Der politische Aufruf hierzu kam in der letzten Woche bei wunderbarem Frühlingswetter in den Köpfen einiger Menschen nicht an. Sie genossen die Zeit draußen und rückten vor Cafés und Restaurants zusammen. Der empfohlene Sicherheitsabstand von 1,5 Metern wurde nicht eingehalten. Jugendliche in Freiburg fielen negativ mit sogenannten Coronaparties auf, Jugendliche woanders gingen offensiv auf Passantinnen und Passanten zu und erschreckten diese laut mit „Coronavirus“. Daraufhin warfen ihnen namhafte Persönlichkeiten aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, wie auch Politik und Medien, Egoismus vor. Aber handelt es sich tatsächlich um Egoismus? Die kriminologische Forschung weiß schon lange, dass junge Menschen bis etwa 21 Jahren vielfach mit sich selbst beschäftigt sind und in einer Phase der Rebellion stecken. Sozial deviante Verhaltensweisen kennzeichnen die Pubertät der meisten. Diese schwierige Phase macht den „vernünftigen“ Erwachsenen seit alters her zu schaffen. Die Jugend, auch wenn dies zu allgemein formuliert ist, ist unvernünftig und meint, ihr kann sowieso nichts oder nicht viel anhaben und fühlt sich irgendwie unsterblich. Der daraus resultierende risikosuchende Lebensstil ist in Zeiten der Coronavirus-Pandemie schwer zu ertragen und es stellt sich die Frage, wie sich die jungen Menschen erreichen lassen.

Es geht Ihnen also primär um die Haltungen junger Menschen?

Jugendliche sind allerdings nicht die einzige Gruppe, die in der Öffentlichkeit auffällt und medial oft thematisiert werden. Weniger Beachtung finden marginalisierte Gruppen wie Obdachlose, Drogenkonsumierende und andere Menschen, die auf den öffentlichen Raum angewiesen sind. Der alkoholkranke Obdachlose gehört zu denjenigen, die vom Coronavirus am stärksten bedroht sind. Was bedeutet dies für deren Risikoverhalten? Die Angehörigen marginalisierter Gruppen verhalten sich, ähnlich der sogenannten Durchschnittsbevölkerung, unterschiedlich. Manche unter ihnen versuchen, sich sozial abzugrenzen, was eine doppelte soziale Ausgrenzung bedeutet: einerseits eine ungewollte durch die sogenannten Normalbürgerinnen und -bürger und andererseits eine „frei gewählte“ von der Szene. Diese soziale Isolation stellt eine immens hohe Belastung für die Betroffenen dar, weil ihre Beziehungen persönlichen Kontakt voraussetzen und digitale Zusammenkünfte regelmäßig ausgeschlossen sind. Andere hocken mit ihren Freunden und Bekannten zusammen, nach dem Motto „geteiltes Leid ist halbes Leid“, und wiederum andere legen eine „Mir-ist-alles-egal“-Haltung an den Tag, die darauf zurückzuführen ist, dass der eigene Lebensstil riskant ist und sie darunter leiden. Das Leben gefährdende Krankheiten sind sowieso verbreitet und eine gesundheitliche Bedrohung mehr schreckt auch nicht mehr.

Nun hat aber das Corona-Virus gerade für diesen Personenkreis besondere Folgen?

Die Coronavirus-Pandemie hat allerdings für marginalisierte Gruppen einschneidende Folgen. Bundesweit wird die soziale Unterstützung und Überlebenshilfe heruntergefahren und sogar eingestellt. Die Ehrenamtlichen, die häufig älter sind, setzen ihr Engagement zu ihrem eigenen Schutz aus. Die Kapazitäten des Übernachtungsschutzes sind reduziert, weil Menschen nicht mehr in Mehrbettzimmern schlafen dürfen. Da wir ein Forschungsprojekt im Münchner Bahnhofsviertel durchführen, haben wir einmal nachgefragt. So ist die Bahnhofsmission als eine Einrichtung der Daseinsvorsorge rund um die Uhr geöffnet und hat eine Auffangfunktion, weil andere Einrichtungen wie eine Suppenküche jetzt geschlossen sind. Der Übernachtungsschutz in einer ehemaligen Kaserne hat zwar nur noch Einzelzimmer, aber dafür rund um die Uhr geöffnet und einen Quarantänebereich eingerichtet. Beim Drogennotdienst ist das offene Café im Kontaktladen geschlossen und der Spritzentausch läuft über ein Apothekerfenster. Die Essensausgabe ist von Lieferungen der Tafel abhängig und die Notschlafstellen wurden reduziert, um die Unterbringung in Einzelzimmern sicherzustellen. Manche Kontaktläden sind zu, andere arbeiten mit verminderter Platzanzahl an Einzeltischen weiter, um den Sicherheitsabstand zu gewährleisten. Duschmöglichkeiten gibt es oft nicht mehr und auch Kleiderkammern sind geschlossen. Die mobile Gesundheitsversorgung funktioniert noch. In allen Einrichtungen wurden die Hygienestandards und Vorsorgemaßnahmen angepasst. Die Bordelle sind geschlossen; im Unterschied zu anderen Städten können die betroffenen Frauen dort bleiben. Die spürbare Verringerung der Kapazitäten bedeutet für Obdachlose, eine noch größere Abhängigkeit vom öffentlichen Raum und durch das Kontaktverbot eine noch größere soziale Isolation.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Mir sind zwei Dinge wichtig. Erstens möchte ich das pauschale Egoismus-Framing hinterfragen, wenn Menschen sich nicht an Empfehlungen oder Verbote halten. Das Framing als Egoismus bietet eine einfache Problemdefinition durch das Außerachtlassen der sozialen Distanzierung. Das Framing bietet eine kausale Interpretation, der Coronavirus verbreitet sich durch Nähe schneller. Das Framing bietet eine moralische Bewertung, der egoistische Mensch sei schlecht. Und schließlich gibt das Framing die Handlungsempfehlung „Bleibt zu Hause“. Egoismus mag auch ein Motiv sein, aber der Umgang mit Gefährdungen und Risiken ist für uns Menschen eine Herausforderung, die sich unterschiedlich äußert. Verdrängung ist beispielsweise ebenfalls eine von mir noch nicht erwähnte, beliebte Strategie. Die von mir aufgegriffenen Beispiele, Jugendliche und marginalisierte Menschen, zeigen, dass die Gefühlswelten und die Lebenslagen viel komplexer als bloße Vereinfachungen sind.
Zweitens möchte ich für die schwierigen Lebensverhältnisse marginalisierter Gruppen während der Coronavirus-Pandemie sensibilisieren. Wenngleich sich das Leben für viele Menschen, die Existenzängste haben und in kleinen Wohnungen alleine oder aufeinander hocken, erheblich verschlechtert hat, gestaltet sich die Lebenssituation für Menschen auf der Straße noch schwieriger. Elementare Überlebenshilfen wie eine warme Mahlzeit, Duschen, ein Schlafplatz, ein Platz im Warmen tagsüber und der Kleiderwechsel fallen weg oder sind nur noch eingeschränkt verfügbar. Es stellt sich die Frage, wie in den nächsten Wochen die Notversorgung dieser Menschen gewährleistet wird und wo sie sich im öffentlichen Raum aufhalten dürfen. Das Kontaktverbot und Ausgangsbeschränkungen im öffentlichen Raum sowie der Wegfall von Aufenthaltsmöglichkeiten in geschlossenen Räumen machen das Leben schwerer.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Der zurzeit oft erwähnte soziale Zusammenhalt zeigt sich nicht nur in der sozialen Distanzierung, der Anerkennung der Leistungen von unter anderem Kranken- und Altenpflegekräften, Verkaufspersonal, Polizei- und Ordnungsdiensten sowie der Nachbarschaftshilfe für Ältere. Vielmehr geht es auch um Verständnis für die Motive von Kindern und Jugendlichen. Nicht zu vergessen ist, dass manche keinen Rückzugsraum zu Hause haben und andere mehr häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Und schließlich sind marginalisierte Gruppen, zu denen auch Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften gehören, besonders gefährdet und haben einen besonderen Hilfsbedarf.

Frau Professorin Haverkamp, haben Sie herzlichen Dank für diesen Zwischenruf und bleiben Sie gesund!

Prof. Dr. Rita Haverkamp
Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement an der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen
Geschwister-Scholl-Platz
72074 Tübingen
https://www.jura.uni-tuebingen.de/professoren_und_dozenten/haverkamp
aktuelle Forschungsprojekte:
https://www.jura.uni-tuebingen.de/professoren_und_dozenten/haverkamp/projekte

 

 

rof. Dr. Dirk Baier

4. Zwischenruf: 23. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Dirk Baier
„Verschwörungstheorien gedeihen in Krisen – Zivilcourage hilft, sie einzudämmen“

Herr Baier, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie direkt fragen, welche Präventionsfragen ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Zweifellos sind derzeit alle die Gesundheitsprävention betreffenden Fragen von besonderer Bedeutung. Das ist aber nicht mein Tätigkeitsbereich. Für die Kriminalprävention sehe ich derzeit vor allem im Bereich des Umgangs mit Aggressionen, die durch die verschiedenen Verhaltensbeschränkungen entstehen können, relevante Themen – so bspw. die Prävention häuslicher Gewalt. Was mich derzeit aber ebenfalls interessiert, ist die Entstehung von Verschwörungstheorien. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass solche Verschwörungstheorien immer dann regelrecht aufblühen, wenn sich etwas gesellschaftlich Einzigartiges ereignet. Dies ist derzeit der Fall. Die Corana-Pandemie verlangt nach Erklärungen – und verschiedene Menschen geben sich nicht mit den Erklärungen der Wissenschaft und Politik zufrieden, sondern vermuten dahinter das Wirken dubioser Mächte. Problematisch ist das in mindestens zweierlei Hinsicht: Erstens in kurzfristiger Perspektive dürften Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, die notwendigen Verhaltensrichtlinien weniger beachten und setzen sich und andere unnötigen Gefahren aus. Zweitens langfristig sinkt mit dem Glauben an Verschwörungstheorien das Vertrauen in das politische System; es kommt zu einer Entfremdung, mit bedeutsamen Konsequenzen. Wir konnten bspw. in einer aktuellen Studie zeigen, dass Jugendliche wie auch Erwachsene, die an Verschwörungstheorien glauben, gewalttätigen Extremismus befürworten. Verschwörungstheorien haben damit über kurz oder lang demokratiegefährdende Folgen.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Mein Appell ist ein einfacher und wenig überraschender: Die negativen Folgen der Verbreitung von und des Glaubens an Verschwörungstheorien berücksichtigend braucht es noch mehr Menschen, die sich gegen diese Theorien stellen, es braucht einmal mehr Zivilcourage. Denn wo werden die Theorien aufgegriffen und verbreitet? Im Freundeskreis, im nahen sozialen Umfeld, in den Sozialen Medien. Und überall dort muss jeder einzelne gegen die Verbreitung dieser Theorien eintreten. Ich finde es in dieser Hinsicht sehr wertvoll, dass sich im Zusammenhang mit der Corona-Krise viele Prominente auf Instagram und anderen Kanälen für die politischen Massnahmen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse dahinter stark gemacht haben. Sie haben damit ihre Vorbildfunktion wahrgenommen. Vorbild im Kleinen kann aber jede Frau und jeder Mann sein.

Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Verschwörungstheorien gedeihen in Krisenzeiten. Auch die Corona-Krise führt zur Verbreitung von abstrusen Annahmen und Deutungen. Dies kann – und das merken wir derzeit so unmittelbar war sonst selten – im Zweifelsfall tödliche Folgen haben. Jeder sollte daher entsprechend seiner Möglichkeiten verhindern, dass sich Verschwörungstheorien weiterverbreiten.

Prof. Dr. Dirk Baier
Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
https://www.zhaw.ch/de/sozialearbeit/institute-zentren/idk

rof. Dr. Marc Coester

3. Zwischenruf: 23. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Marc Coester
„Krisen bedingen eine Schwächung sozialer Normen. Das Strafrecht muss reagieren.“

Heute ist Montag, der 23. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Dr. Marc Coester . Herr Coester ist Professor für Kriminologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin und ausgewiesener Experte zum Themenkomplex Hasskriminalität.

Herr Coester, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie direkt fragen, welche kriminologischen Gedanken Sie sich in der derzeitigen Ausnahmesituation machen.

Tatsächlich birgt die Corona-Krise aus kriminologischer Sicht sehr viel Sprengstoff oder anders: viele Phänomene, mit denen sich die Kriminologie beschäftigt sind akut betroffen. Dabei sowohl positiv wie negativ: einige Phänomene werden einen positiven Einbruch erfahren. Z.B. Spontane Jugendgewalt auf der Straße oder Gewalt an Schulen. Negativ dürften sich aber all‘ diejenigen Taten entwickeln, die schon immer im Dunkelfeld und gerade im häuslichen Bereich stattgefunden haben: Gewalt in der Familie, Gewalt in der Pflege. Ich bin schon auf die Polizeiliche Kriminalstatistik 2020 gespannt.

Die Kriminologie fragt aber auch nach den Ursachen abweichenden Verhaltens. Und das wiederum ist ja eine wichtige Voraussetzung für jede Präventionsstrategie. Also: was könnten in Zeiten einer so globalen und fundamentalen Krise Ursachen kriminellen Verhaltens unter Extremsituationen sein? Hierzu liefert zunächst Emile Durkheim Ansätze, der am Ende des 19. Jahrhunderts und unter den Eindrücken einer weltweiten Zerrüttung – der Industrialisierung – erstmalig Gedanken zum Verhältnis vom Menschen in der Gesellschaft angestellt hat. Ganz kurz gefasst war eine seiner Aussagen: In Zeiten fundamentaler Umwälzungen in der Gesellschaft, brechen auch soziale Normen weg (hier entsteht der Begriff der Anomie, also der Normlosigkeit). Anomie bedingt eine Schwächung der bekannten Strukturen und Ordnungsprinzipien, der Einzelne verliert seine Orientierung, der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt und soziale Regeln finden keine Beachtung mehr. Durkheim beobachtete damals Aufgrund dieser Entwicklungen erhöhte Kriminalitäts- aber auch Selbstmordraten in vielen europäischen Ländern.

Ein amerikanischer Soziologe, Robert K. Merton, griff diese Gedanken in den 1930er Jahren und in Folge einer weiteren weltweiten Krise, der Weltwirtschaftskrise, auf. Er konkretisierte die Ideen von Durkheim und formulierte 5 Reaktionsmuster, wie der Mensch in und nach Krisen damit umgeht, aufgrund von z.B. Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, kulturell anerkannte Ziele nicht mehr erreichen zu können. Die gute Nachricht dabei: eine der Reaktionsformen ist, laut Merton, die Konformität, also die Anpassung an den sozialen Wandel. Die Rebellion ist allerdings eine andere, d.h. die Bekämpfung dieser gesellschaftlichen Ziele und die gewaltsame Veränderung sozialer Strukturen. Damit gemeint ist Terrorismus und Extremismus.

Damit wären Sie bei Ihrem Thema der Hasskriminalität

Genau. Kurz vor der Corona-Krise hatten wir Halle und Hanau. Wir hatten die Regierungskrise in Thüringen. Wir haben seit Jahren ein Erstarken der extremen Rechten, wir haben Gruppen, die sich Abschotten und Krisen heraufbeschwören, die in Sündenbockphantasien und Endzeitszenarien das Ende der Demokratie heraufbeschwören, die sich im Wald Lebensmittel- und Waffenlager anlegen oder sich in wirren Kaiserreichen auf deutschem Boden organisieren. Diese Menschen träumen von geschlossenen Grenzen, reden vom Volkstod oder dem großen Austausch und haben es heute bis in die Parlamente geschafft. Wir erleben Attentate aber auch alltägliche rassistische Gewalt auf den Straßen – Hasskriminalität - und Täter, die sich auserkoren fühlen all‘ solche Phantasien und Ideologien mit Gewalt durchzusetzen. Und das schon vor der jetzigen Krise. Durkheim und Merton würden sagen, aufpassen, denn jetzt und gerade nach der Krise kommt deren Zeit. Das Gemeinwesen ist physisch und psychisch geschwächt, Ordnungsprinzipien brechen weg, soziale Regeln verwässern, der Zusammenhalt bröckelt, Durkheim würde sicher einen anomischen Zustand attestieren. Ein Einfallstor für Extremisten und Terroristen.

Was kann die Prävention hier ausrichten?

Sehr viel. Wir werden während und besonders nach der Krise gesamtgesellschaftlich, d.h. in allen Institutionen, dafür sorgen müssen, den Zusammenhalt zu stärken, Solidarität zu fördern und ganz dezidiert Toleranz, Vielfalt und Weltoffenheit zu festigen. Die Prinzipien der Demokratie müssen nach der Krise umso mehr gelehrt und gelernt werden. Wir werden uns weiterhin mit dem Abbau von Vorurteilen und Gewalt beschäftigen müssen. Für all das gibt es schon viele, teils gut evaluierte, Ansätze und Programme. Die Message sollte nur ankommen, dass, sollten Merton und Durkheim recht behalten, es umso dringender nach der Krise auf allen Ebenen gestaltet werden muss.
Zuletzt geht es aber auch insbesondere um eine klare Repression in diesem Zusammenhang. Die Schwächung von Normen und Ordnungsprinzipien in Krisen benötigt deutliche Signale und Antworten des Rechtsstaates. Im Februar wurde das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität im Bundestag beschlossen. Ich meine, dieses blieb schon vor der Krise hinter seinen Möglichkeiten. M.E. bedarf es in Deutschland jetzt noch mehr einer deutlichen strafrechtlichen Normierung von Hassverbrechen: Hasskriminalität als eigenständiger, ‚echter‘ materiell-rechtlicher, strafverschärfender Paragraph im StGB.

Herr Professor Coester, Danke für Ihren Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Prof. Dr. Marc Coester
Professur für Kriminologie, Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin
Alt Friedrichsfelde 60
10315 Berlin
marc.coester@hwr-berlin.de.
Weitere Informationen unter www.marc-coester.de.

Prof. Dr. Klaus Wahl

2. Zwischenruf: 23. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Klaus Wahl
„Die Krise als Chance: Krisen- und Gewaltprävention neu planen“

Heute ist Montag, der 23. März 2020. Ich bin Erich Marks und als Geschäftsführer des Deutschen Präventionstages freue ich mich über ihr Interesse an unseren Zwischenrufen zur Prävention in Zeiten der Corona-Epidemie und von COVID-19.

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Prof. Dr. Klaus Wahl. Herr Wahl ist Aggressionsforscher, hat über viele Jahrzehnte zahlreiche empirische Studien durchgeführt und war u.a. wissenschaftlicher Stabschef im Deutschen Jugendinstitut. Er versteht sich als Brückenbauer zwischen Naturwissenschaft und Sozialwissenschaften.
Herr Wahl, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie direkt fragen, welche Präventionsfragen ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Krisenzeiten wie jetzt beim Coróna-Virus erzeugen bei vielen Menschen Furcht und Angst. Solche Emotionen können dann unterschiedliche Verhaltensreaktionen auslösen. Es können schädliche Reaktionen sein wie Aggression oder nützliche wie die Hilfe für andere. Die Kernfrage ist dann: Wie kann man die Chancen für Aggression vermindern?

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Ich will jetzt gar nicht auf die aktuellen, unmittelbaren Probleme eingehen, etwa von Familien, die sich eingesperrt fühlen, aggressiv werden können und denen man helfen muss. Dazu äußern sich ja andere Experten. Aber man hört ja oft, jede Krise biete auch eine Chance. Daher möchte ich den Blick darauf lenken, was man aus der Coróna-Krise für die Zukunft ableiten kann. Es ist ja abzusehen, dass es weiter Wirtschaftskrisen, Globalisierungskrisen, die Klimakrise usw. geben wird.

Vor dem Blick in die Zukunft aber zunächst ein kurzer Blick in die Vergangenheit: In der langen Zeit der Evolution haben Menschen typische Formen entwickelt, auf bedrohliche Situationen zu reagieren. Gefahren lösen Emotionen wie Furcht oder Angst aus. Diese Emotionen wiederum motivieren zu einer Reihe von Verhaltensweisen, um der Gefahr zu entgehen oder sie real oder auch nur scheinbar zu bewältigen. Wie heftig diese Emotionen empfunden werden und welches Verhalten sie genau auslösen, hängt aber auch stark von der Persönlichkeit der einzelnen Menschen ab. Solche Reaktionen sind z. B.:

  • Egoismus (zur Sicherung des eigenen Überlebens), etwa beim Hamstern von Lebensmitteln oder Stehlen von Gesichtsmasken.
  • Eine andere Reaktion ist Aggression, wenn eigene Bedürfnisse frustriert werden (z. B. wenn man plötzlich ohne Arbeit in einer engen Wohnung verbringen muss, wo die Kinder oder der Partner stören; oder denken wir an Jugendliche, die mit anderen ausgehen wollen, aber eingesperrt sind und deswegen wütend werden).
  • Gefahrensituationen können aber auch den Zusammenhalt einer Gesellschaft nach innen fördern, allerdings auch oft begleitet von Abgrenzung nach außen (nationalistische Gefühle), und oft wiederum verbunden mit
  • einer Sündenbocksuche zur Entlastung der eigenen Verantwortung (am Beginn der Corona-Epidemie in Deutschland flammten alte Vorurteile gegen Chinesen auf; danach gab Donald Trump den Europäern die Schuld, den Virus nicht vor seiner Reise nach Amerika gestoppt zu haben).

Doch etliche Personen zeigten auch positive Reaktionen:

  • Etwa Altruismus bei der Hilfe für Risikopersonen (Alte, Kranke).
  • Es zeigte sich auch Solidarität mit ansonsten schlecht bezahlten Berufsgruppen (Krankenschwestern).

Es gibt also für das gesellschaftliche Leben negative und positive Reaktionen auf Gefahren. Und die sind u. a. von den einzelnen Persönlichkeiten abhängig.

Ich möchte daher jenseits der natürlich notwendigen aktuellen Präventions- und Interventionsmaßnahmen die jetzige Krise auch als Chance nutzen und fragen, wie wir Menschen darauf vorbereiten können, für künftige Krisen besser gewappnet zu sein.

Neben Gesundheitspolitik, Katastrophenschutz, Klima-, Wirtschafts- und Entwicklungspolitik wäre eine wichtige Präventionsmaßnahme, Menschen selbst zu Persönlichkeiten zu verhelfen, die mit Stress und Herausforderungen produktiver umgehen können - das Stichwort hierzu ist Resilienz, also die Fähigkeit, Krisen und Stress zu bewältigen. Wie die Forschung zeigt, beginnt die Entwicklung jeder Persönlichkeit früh, mit den elterlichen Genen, epigenetischen Prozessen, durch Einflüsse während der Schwangerschaft und in der Kleinkindphase. Hier entscheidet sich schon weitgehend, ob Kinder zu resilienten Persönlichkeiten werden und ob sie mutig oder ängstlich werden, sich Risiken stellen oder aus dem Weg gehen, friedlich oder aggressiv sind. Eine positive Entwicklung kann man durch frühe Hilfen in Familien, vor allem aber auch in Kitas und Grundschulen fördern, durch Entlastung und Beratung für Eltern, spezifische sozialpädagogische Angebote in den Kitas zur Förderung entsprechender Kompetenzen bei Kindern usw. – auch als Beitrag zur Prävention späterer Gewalt im Jugend- und Erwachsenenalter.

Abschließend bitte ich Sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Ich denke angesichts der uns alle sehr bis extrem belastenden Corona-Krise nicht nur an jetzt unmittelbare Maßnahmen für die aktuellen Herausforderungen. Sondern ich versuche, schon eine Lehre aus der Krise für die Zukunft zu ziehen: Wie kann Prävention – neben vielen anderen notwendigen politischen Schritten – Menschen darauf vorbereiten, mit Krisen produktiver und friedlicher umzugehen, statt gewalttätig zu werden. Das beginnt beim Kind und seiner Persönlichkeitsentwicklung – und auf die können wir Einfluss nehmen. Das wäre ein erster, wichtiger, strategischer Schritt einer umfassenden gesamtgesellschaftlichen Gewaltprävention, wie sie auch schon in einer Initiative des Deutschen Präventionstags diskutiert wird.

Herr Professor Wahl, ich sage herzlich Danke für Ihren heutigen Zwischenruf und bleiben Sie gesund.

Prof. Dr. Klaus Wahl
Psychosoziale Analysen und Prävention - Informations-System (PAPIS), München
https://klauswahl.hpage.com/

Neuerscheinung
Klaus Wahl
The Radical Right
Biopsychosocial Roots and International Variations
London: Palgrave Macmillan / Cham: Springer Nature 2020
Hardcover ISBN 978-3-030-25130-7
eBook ISBN 978-3-030-25131-4
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Prof. Dr. Christian Pfeiffer

1. Zwischenruf: 20. März 2020

Erich Marks im Gespräch mit Prof. Dr. Christian Pfeiffer
„Neue Formen der Solidarität müssen entwickelt werden“

Zum heutigen Zwischenruf begrüße ich am Telefon Professor Dr. Christian Pfeiffer. Herr Pfeiffer ist einer der bekanntesten Kriminologen in Deutschland; er hat fast drei Jahrzehnte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen geleitet und war auch für einige Jahre Niedersächsischer Justizminister.

Herr Pfeiffer, ich begrüße Sie herzlich und darf Sie direkt fragen, welche Präventionsfragen ihnen aktuell besonders wichtig erscheinen.

Da wir wegen Corona primär zu Hause leben, dürfte in dieser Zeit etwas drastisch abnehmen: der Wohnungseinbruch. Aber das ist schon die einzige, wirklich gute Nachricht. Meine Sorge gilt Kindern und Frauen. Das notwendige Schließen der Schulen, Kindergärten, Spielplätze und Sporthallen begründet in Kombination mit der faktischen Arbeitslosigkeit vieler Eltern ein steigendes Risiko innerfamiliärer Gewalt. Es kommt ja hinzu, dass der Stress besonders in solchen Familien steigt, denen das tägliche Einkommen weggebrochen ist. Da droht auf einmal echte Armut, weil das Bargeld fehlt und Hartz IV noch nicht beantragt ist. Wenn dann noch enge Wohnverhältnisse und der Griff zum Alkohol hinzukommen, werden die schwachen Mitglieder der Familie schnell zu Opfern körperlicher und sexueller Gewalt.

Was ist das zentrale Anliegen Ihres heutigen Zwischenrufes?

Angesichts der beschriebenen Situation kann ich nur hoffen, dass die verantwortlichen Politiker weiterhin auf die Ausgangssperre verzichten können. Sie würde die Situation in den bedrängten Familien drastisch verschärfen. Und gleichzeitig sind die Nachbarn dazu aufgerufen, trotz der notwendigen Distanz, wo immer ihnen das möglich ist, kleine Hilfen anzubieten und notfalls die Polizei zu rufen, wenn sie mitbekommen, dass Gewalt geschieht.

Abschließend bitte ich sie um eine kurze zusammenfassende Aussage zu Ihrem heutigen Anliegen.

Die bei vielen Menschen plötzlich hereinbrechende Armut schafft Probleme, die wir nur bewältigen können, wenn neue Formen der Solidarität entwickelt werden. Ein Beispiel sind die Tafeln, die ja primär von älteren Menschen organisiert und betreut wurden. Da müssen jetzt die Jungen mit anpacken, weil die Zahl der Bedürftigen drastisch steigen wird, die kein Geld mehr für das tägliche Brot haben.

Herr Professor Pfeiffer, ich danke Ihnen für das Gespräch.