Gesamtgesellschaftliche Kriminalpräventionn
13/15 November 2000
  • 1.214 Kongressteilnehmende und Besucher*innen
  • 61 Referierende
  • 57 Vortragsbeiträge in 6 Foren und 10 Workshops
  • 84 Ausstellungsbeiträge (Infostände)
  • Theatervorführungen
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Am 13. & 15. November 2000 tagte der 6. Deutsche Präventionstag in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf. Unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Wolfgang Clement wurde das Kongressthema: „Gewalt – ein Phänomen unserer Gesellschaft!?“ im Congress Center Düsseldorf in diversen Foren und Workshops erörtert.

25 Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Prof. Dr. Britta Bannenberg

Juristin und Präventionsforscherin; Professur für Kriminologie der Universität Gießen

Gewalt und Gewaltprävention – Facetten im Spiegel der 25 Jahre

Zwischen dem 1. Deutschen Präventionstag (DPT) in Lübeck 1995 und dem 25. DPT im Jahr 2020, der erstmals digital stattfinden musste (und ansonsten in Kassel stattgefunden hätte), liegen 25 Jahre, in denen sich nicht nur die Kriminalprävention in Deutschland, sondern auch einzelne Themen grundlegend gewandelt haben. Im Rückblick ließen sich viele Aspekte in ganz verschiedener Herangehensweise beleuchten. Hier soll weder eine Chronik der Themen und Vorträge, noch eine detaillierte Betrachtung einzelner relevanter Deliktsbereiche nach Inhalt und erreichten Fortschritten in der evidenzbasierten Kriminalprävention nach Phänomenen erfolgen, obwohl das reizvoll wäre. Diese Herausforderung einer wissenschaftlich tiefgehenden Betrachtung einzelner Kriminalitätsphänomene kann und soll hier nicht geleistet werden. Jedoch sticht bei der rückblickenden Betrachtung das immer relevante Thema der Gewalt und der Gewaltprävention in unterschiedlicher Weise hervor.

Bevor es zum 1. DPT, der 1995 in Lübeck unter dem Oberthema „Kommunale Kriminalprävention“ stattfand, kam, lohnt es sich, die damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen zu betrachten. In den Jahren nach der Wiedervereinigung kam es zu einem erheblichen Anstieg der Kriminalität vor allem in den neuen Bundesländern. Es ging hier um zahlreiche Phänomene, von dem Anstieg der Eigentumskriminalität, insbesondere dem Diebstahl von Kraftfahrzeugen und Wohnungseinbruchsdiebstahl über die breit debattierte Jugendkriminalität und insbesondere Jugendgewalt, Taten im öffentlichen Raum, aber auch ganz erheblichen Vorfällen der Wirtschaftskriminalität (Stichwort Treuhandverfahren). Die im Umbruch und Neuaufbau befindlichen Strafverfolgungsbehörden der neuen Bundesländer waren in den ersten Jahren den Herausforderungen durch Kriminalität nicht gewachsen. Zudem nutzten zahlreiche tatbereite Personen auch aus den alten Bundesländern die günstigen Gelegenheiten zur Begehung von Straftaten aller Art gerade in den neuen Bundesländern. Hinzu kam der Wegfall der Ost-West-Blöcke mit einer neuen Durchlässigkeit von Ländergrenzen, die auch Migrationsbewegungen zur Folge hatten. Ganz besonders ist der Anstieg der Gewalt in diesen Jahren mit zahlreichen Höhepunkten in Art und Ausmaß rechtsgerichteter oder rechtsextremistischer Gewalt hervorzuheben. 1991 Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, 1992 neue Höhepunkte registrierter rechtsextremistischer (Gewalt)Vorfälle, 1993 Solingen. Nicht nur die neuen Bundesländer waren vom Anstieg des Rechtsextremismus betroffen, einzelne Vorfälle waren jedoch besonders herausragend und in der Medienwirkung nicht zu unterschätzen. Gründungen von Kameradschaften und rechten Gruppen, Gewalt im öffentlichen Raum auch aus anderen Gründen sowie Probleme mit Aussiedlerinnen und Aussiedlern und russischstämmigen Jugendlichen beförderten den Anstieg von Kriminalität und Gewalt, aber auch die damalige Popularität des Gedankens der Kommunalen Kriminalprävention. In zahlreichen Kommunen versuchten Polizei und Kommunen gemeinsam mit vernetztem Vorgehen den Phänomenen Einhalt zu gebieten. Diese Themen beherrschten die ersten Deutschen Präventionstage und es sollte bis zum Jahr 1999 dauern, bis der 5. DPT in Hoyerswerda stattfand (unter dem Thema: „Gesamtgesellschaftliche Prävention, Projekte, Entwicklungen, Perspektiven“).

In diesen Jahren nach der Wiedervereinigung erfuhr die Idee der Kommunalen Kriminalprävention einen starken praktischen Schub, es wurden zahlreiche kriminalpräventive Gremien gegründet, so dass um das Jahr 2000 herum von über 2.000 kriminalpräventiven Gremien in Kommunen ausgegangen wurde. Diese waren häufig von der Polizei initiiert und getragen, es gab aber auch ein gegenseitiges Bemühen von Polizei und Kommunen um Vernetzung, Austausch und Problemlösungen. Sicherheit durch Kriminalprävention war in diesen Jahren von der Praxis bestimmt. Die ersten Präventionstage thematisierten praktisch relevante Themen, jedoch war zur damaligen Zeit die Frage nach der Wirksamkeit von kriminalpräventiven Maßnahmen noch selten Thema. Der Sherman-Report oder Maryland-Report aus dem Jahr 1997 (Sherman, L.W., Gottfredson, D., MacKenzie, D., Eck, J., Reuter, P., & Bushway, S.: Preventing Crime: What works, what doesn´t, what´s promising. Washington D.C.) war ein Auftakt zur Frage nach Wirkungen kriminalpräventiver Forschung, der Methoden in den Vordergrund stellte und international Folgen hatte. Für Deutschland waren zunächst eher zurückhaltende Versuche festzustellen, evidenzbasierte Kriminalprävention zur Kenntnis zu nehmen, und insbesondere ist es bis heute schwierig, methodisch als wirksam oder unwirksam anerkannte Maßnahmen in der Praxis bekannt zu machen. Die Ergebnisse etwa der Campbell Collaboration sind noch immer nicht breit bekannt, auch nicht die zusammenführenden Analysen etwa von Weisburd, Farrington und Gill: „What Works in Crime Prevention and Rehabilitation“ aus dem Jahr 2016 oder Zusammenstellungen wie „Evidenzorientierte Kriminalprävention in Deutschland“ von Walsh, M., Pniewski, B., Kober, M. und Armborst, A., aus dem Jahr 2018. Der Präventionstag griff die Thematik immer wieder in zahlreichen Vorträgen auf. Die Praxisforen und Projektdarstellungen sind aber immer – in einem überaus beachtlichen Umfang – Schwerpunkt des Kongresses gewesen.

Der Terroranschlag vom 11. September 2001 veränderte die Sichtweisen auf Gewalt- und Kriminalitätsprobleme und hatte nicht nur Umstrukturierungen bei der Polizei zur Folge, sondern auch Wahrnehmungen von Gewaltproblemen. Die Fokussierung auf den islamistischen Terror wirkt bis heute. Für die Kriminalprävention setzte ein praktischer Wandel ein, der bei den Präventionstagen ebenfalls spürbar war. Auf der kommunalen Ebene gingen die lokalen Bemühungen um Kriminalprävention und Vernetzung deutlich zurück. Diese Folgen sind heute sichtbar. Die Kontakte auf der regionalen Ebene zwischen Polizei, kommunalen Vertretern und Vertretern aus Vereinen und Zivilgesellschaft sind nicht mehr selbstverständlich, die Zahl der kommunalen kriminalpräventiven Gremien sank und die Zusammenarbeit wurde schwieriger. Das Thema Sicherheit und Sicherheitsgefühl blieb relevant, das Wissen um regionale Möglichkeiten der Gegenwirkung und Prävention nahm jedoch ab. Zudem gab es Gewaltvorfälle, die man Jahre zuvor für unmöglich gehalten hatte. Amoktaten an Schulen, die mit der Tat in Erfurt am 26.4.2002 (16 Tote, Suizid des Täters) erstmals in das deutsche Bewusstsein gerieten (und der Vorbildtat an der Columbine High-School am 20.4.1999 in Littleton, Colorado folgten), brachten eine ganz neue Form von Gewalt hervor. Die Medienaufmerksamkeit der seltenen Taten war enorm und es gab Folgetaten (etwa die Amoktat in Winnenden und Wendlingen am 11.3.2009 mit 15 Todesopfern und dem Suizid des 17-jährigen Täters), die insbesondere bei einer hohen Zahl von Todesopfern und Verletzten wiederum breit berichtet wurden und zahlreiche Bemühungen um Erforschung und Prävention nach sich zogen.

Im Jahr 2011 kam es nicht nur zu einer monströsen Tat in Norwegen, die diesmal von dem erwachsenen Täter Anders Breivik in Oslo und auf der Insel Utoya begangen wurde (77 Todesopfer und zahlreiche Verletzte) und weltweit Aufmerksamkeit erregte. Die Tat verdeutlichte auch, dass nicht nur der islamistische Terror zu einem Problem geworden war, sondern auch der rechtsextremistische Terror neue Entwicklungen hervorbrachte. Für Deutschland wurde dies durch das im gleichen Jahr bekannt gewordene Auffliegen des rechtsterroristischen NSU deutlich. Am 4.11.2011 brannte ein Wohnmobil in Eisenach und die beiden Täter Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos wurden tot aufgefunden. Beate Zschäpe wurde festgenommen. Unerkannt hatte sich eine rechtsterroristische Kleingruppe über Jahre im Untergrund aufgehalten, neun Migranten und eine Polizeibeamtin ermordet und zahlreiche weitere schwere Gewaltdelikte, Mordversuche und Banküberfälle begangen. Unterstützt wurde die Terrorgruppe von Angehörigen einer rechtsextremistischen Szene. Staatliche Behörden gaben kein gutes Bild ab, wie die zahlreichen Untersuchungsausschüsse und Parallelen zu aktuellen Rechtsextremisten bis heute zeigen. Für die Kriminalprävention veränderten sich die Themen und insbesondere der Islamismus mit den Ausreisebewegungen von jungen Menschen in die Kriegsgebiete des Islamischen Staates brachte das Thema Radikalisierung und Deradikalisierung auf. Die Dominanz der zahlreichen Projekte mit einem Schwerpunkt auf Themen der Deradikalisierung war auch auf den Präventionstagen sichtbar. Die Konzentration auf die Thematik bewirkt nicht unbedingt einen Fortschritt für die Beurteilung der Wirksamkeit der zahlreichen Maßnahmen und Bemühungen. Die Evaluation ist aus verschiedenen Gründen schwierig.

Die letzten zehn Jahre waren von Themen geprägt, die Sicherheit und Sicherheitsgefühl in Kommunen sowie die Folgen der Flüchtlings- und Zuwanderungsbewegungen nach Europa in den Vordergrund stellten. Der starke Zustrom von Flüchtlingen insbesondere im Jahr 2015 brachte nicht nur Herausforderungen für die Integration und Prävention mit sich, sondern führte zu einem erheblichen Gewaltanstieg auch bei schweren Delikten und Extremismus aus allen Richtungen. Letztlich bilden sowohl der islamistische Extremismus, der Rechtsextremismus, aber auch der wieder erstarkende Linksextremismus eine toxische Mischung mit Aufschaukelungsbewegungen, die zahlreiche kriminalpräventive Fragen aufwirft. Erinnert sei an den Terrorakt des Anis Amri in Berlin, in jüngster Zeit an die Tat in Christchurch am 15.3.2019, bei der ein Rechtsextremist 51 Menschen getötet hat und die Tat live mit einer Head-Cam in das Internet übertragen hat. Dies inspirierte den rechtsextremistischen Täter von Halle/Saale, der am 9.10.2019 den gleichen Versuch unternahm, das Tatgeschehen live zu übertragen. In Hanau tötete am 19.2.2020 ein psychisch kranker Täter mit rechtsextremistischen Ansichten neun Menschen. Am 24.2.2020 fuhr ein Mann ohne erkennbare ideologische Motivation in einem Rosenmontagsumzug mit seinem PKW in die feiernde Menschenmenge und verletzte über 100 Menschen. Diese schweren Gewaltdelikte durch einzeln handelnde bzw. Einzeltäter sind selten, aber sie haben Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl, weil von dem Täter unbekannte Menschen attackiert werden. Es kann also grundsätzlich jedermann treffen. Dadurch werden aber auch Extremisten aus allen Richtungen weiter in ihren hasserfüllten und feindseligen Gedanken gestärkt.

Die letzten Jahre waren außerdem von Anstiegen hasserfüllter Abwertungen im Internet sowie der Gewalt gegen Amtsträger und Beschäftigte in Behörden geprägt. Standen zunächst eher Angriffe auf Polizeibeamtinnen und -beamte und Einsatzkräfte (Feuerwehr, Rettungsdienste) im Fokus, wird mittlerweile deutlich, dass Beschäftigte in zahlreichen Behörden mit Kundenkontakt unter Anfeindungen, sinkendem Respekt, Aggressionen bis hin zu gewalttätigen Angriffen zu leiden haben. Die Corona-Pandemie mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgen trägt nicht zur Entspannung bei, sondern lässt Gewaltanstiege in den nächsten Jahren erwarten.

Der Deutsche Präventionstag stellt als nationales Praxisforum eine Institution dar, die mittlerweile nicht mehr hinwegzudenken ist. Im Laufe der 25 Jahre spiegelten sich in den Themen und Projektdarstellungen die gesellschaftlichen Veränderungen. Im Jahre 1995 konnte man sich noch nicht vorstellen, dass ein jährlicher Kongress eine solche Bedeutung erlangen würde.