Kommunale Kriminalprävention
18/19 Mai 2004
  • 1.985 Kongressteilnehmende und Besucher*innen
  • 158 Referierende
  • 32 Vorträge und 18 Workshops
  • Eventbühne
  • 121 Infostände
  • Präventionsmeile
  • Kinderuniversität
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Der 9. Deutsche Präventionstag wurde am 17. & 18. Mai 2004 im Kultur- und Kongresszentrum Liederhalle in Stuttgart durchgeführt. Die „Kommunale Kriminalprävention“ bildete das Schwerpunktthema des unter der Schirmherrschaft von Ministerpräsident Erwin Teufel stehenden Kongresses in Baden-Württemberg.

25 Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Dr. Martin Schairer

Bürgermeister der Stadt Stuttgart a.D. und Gründungsvorsitzender des Deutsch-Europäischen Forums für Urbane Sicherheit e.V. (DEFUS)

I. Gratulation

Gratulation dem Deutschen Präventionstag sowie Erich Marks und seinem Team zum 25-jährigen Bestehen und zu einer Erfolgsstory. Vor Corona besuchten zuletzt über 3.000 Interessierte die wichtigste europäische und weltweit größte Fachveranstaltung für Kriminalprävention. Begonnen hatte alles 1995 in Lübeck. Stuttgarts damaliger Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster, ein Präventionsmann der ersten Stunde, war so überzeugt, dass er in einem Brief an den damaligen baden-württembergischen Innenminister Dr. Thomas Schäuble eine dauerhafte Bewerbung Stuttgarts für den Präventionstag für überlegenswert hielt. Stuttgart war schließlich im Jahr 2004 Austragungsort zum damals hochaktuellen Thema „Kommunale Kriminalprävention“. Die Stadt Stuttgart selbst sah sich in dieser Zeit an der Spitze der Bewegung1 , vor allem mit dem bundesweit ersten "Haus des Jugendrechts", das 1999 eröffnet wurde2 . Inzwischen sind viele dieser Häuser entstanden und stellen nach wie vor eines der bekanntesten best practice Beispiele aus den Anfängen der Kommunalen Kriminalprävention dar. Vorbild waren die New Yorker Nachbarschaftsgerichte als Teile des amerikanischen community policing, das die Bewegung der Kommunalen Kriminalprävention in Deutschland Anfang der 1990er Jahre stark befruchtet hat.

II. Was war?

1. Baden-Württemberg

Auf dem 9. Deutschen Präventionstag vom 17. bis 18. Mai 2004 in Stuttgart schilderte der damalige Landespolizeipräsident Erwin Hetger die Anfänge der Kommunalen Kriminalprävention (KKP) in Baden-Württemberg sehr selbstbewusst aus dem Blickwinkel der Polizei. Denn es war jedenfalls in Baden-Württemberg die Landespolizei, die Anfang der 1990er Jahre die Einführung der Kommunalen Kriminalprävention systematisch aufgebaut und gefördert hat3 . Der Ansatz der Kommunalen Kriminalprävention wurde Ende 1993 in vier baden-württembergischen Modellstädten wie Calw, Freiburg, Ravensburg und Weingarten im Praxistest auf Herz und Nieren geprüft. Denn die Skeptiker aus der Kommunalpolitik fürchteten, dass die Polizei sich zurückzieht und ihre Aufgaben aus ihrem Bereich an die Rathäuser abtritt. Besonders überzeugend war damals, dass die Oberbürgermeister der Pilotstädte (zu nennen ist der damalige OB Vogler aus Ravensburg) sich als engagierte Multiplikatoren zu Fürsprechern der Kommunalen Kriminalprävention machten und die Bedenkenträger in den Behörden und im Stadtrat für die Idee gewinnen konnten. Sensibles Vorgehen war damals das Gebot der Stunde. Auf dem Präventionstag in Stuttgart schilderte der Präsident des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg, Franz-Hellmut Schürholz, dass einzige damalige Vorgabe lediglich die sehr allgemeine Zielsetzung war, „in möglichst enger Zusammenarbeit von öffentlicher Verwaltung, Bürgerschaft, Wirtschaft, Vereinen, Verbänden und der Polizei das objektive Kriminalitätsgeschehen, aber auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürgerinnen und Bürger zu analysieren und geeignete Maßnahmen zur Verbesserung der örtlichen Sicherheitslage wie auch des Sicherheitsempfindens zu entwickeln und umzusetzen“. Die Geschäftsführung sollte immerhin bei der Kommune liegen. Die Polizei hielt sich zurück, sie sollte sich nur „beratend“ und „impulsgebend“ einbringen im Rahmen der örtlichen Sicherheitsanalyse, durch Feststellung von Kriminalitätsbrennpunkten und bei der Entwicklung von Ansätzen für Präventionsmaßnahmen4 . Wie neu und unbearbeitet die Wege damals waren, zeigt sich in der vorsichtigen Beschreibung der Erfolgsbilanz: Man habe „gute Ergebnisse“ dort erzielt, wo die kommunalen Verwaltungsspitzen die Federführung übernahmen und die Kommunale Kriminalprävention zur eigenen Angelegenheit machten.

Aus diesen Erfahrungen heraus hat sich das Landespolizeipräsidium im Innenministerium Baden-Württemberg an die Aufgabe gemacht, die Kommunale Kriminalprävention landesweit einzuführen. Dabei wurden mit den Kommunalverbänden weitere Multiplikatoren gewonnen – eine damals geniale Idee! Beim Städte-, Landkreis- und Gemeindetag stieß man auf offene Ohren. Deren konstruktive Grundhaltung war die Basis für den erfolgreichen Prozess der Einführung der Kommunalen Kriminalprävention. Schließlich wurde im Frühjahr 1997 eine „Empfehlung zur landesweiten Umsetzung der Kommunalen Kriminalprävention an alle Bürgermeister, Oberbürgermeister und Landräte“ vereinbart. Dies war der Beginn einer dynamischen Erfolgsgeschichte. Beim Präventionstag in Stuttgart konnte der LKA-Präsident von 530 Projekten in über 300 baden-württembergischen Städten, Gemeinden und Landkreisen berichten. 1997 seien es noch wenige 43 gewesen. Die Projektleitung war schon in 44 % der Fälle direkt bei den Kommunen und Landkreisen angesiedelt. Den Schlusspunkt der Verantwortungsübertragung auf die Kommunen setzte dann die baden-württembergische Verwaltungsreform. Mit der gemeinsamen Rahmenvereinbarung wurde mit Wirkung zum 1. Januar 2005 die Kommunale Kriminalprävention dort verortet, wo sie bis heute hingehört, als dauerhafter kommunaler Planungsgegenstand bei den Bürgermeister- und Landratsämtern.

Dabei darf ein Missverständnis nicht aufkommen, das auch damals beim Stuttgarter Kongress betont wurde: Kommunale Kriminalprävention ist und bleibt auch ein Herzstück der polizeilichen Sicherheitsphilosophie. Dies erklärt sich aus der subsidiären, gesetzlichen Stellung der Polizei als eine rund um die Uhr erreichbare Hilfsinstanz und Gewährleisterin der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Die Polizei will sich mit ihrer Kompetenz und ihrem Sachverstand einbringen, ohne deshalb andere aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Eine gute Polizeiarbeit zeichnet sich darin aus, stets „vor die Lage“ zu kommen. Wörtlich übersetzt heißt Prävention genau dies: „Zuvorkommen“. Und genau deshalb muss eine richtige Gesamt-Sicherheitsstrategie immer zwei Hauptsäulen beinhalten: Konsequente Repression und ursachenorientierte Prävention. Dies wurde in den 1980er Jahren zuerst mit dem Thema „bürgernahe Polizei“ und in den frühen 1990er Jahren durch das amerikanische community policing neu entdeckt. Steigende Jugendkriminalität, Zuwanderung, Globalisierung und eine anspruchsvollere Bürgergesellschaft taten ihr Übriges. Die Philosophie des italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria (1738-1794) wurde ebenso wieder entdeckt wie Franz von Liszt (1851-1919), der Begründer der deutschen soziologischen Strafrechtsschule, der sagte, „die beste Kriminalpolitik ist eine gute Sozialpolitik“. Gepaart mit der Erkenntnis, dass die Mehrheit der Delinquenten dort ihre Straftaten begehen, wo sie leben und wohnen, dass gute kommunale Rahmenbedingungen, Integration, Bildung und Arbeit das Abgleiten junger Menschen am besten verhindern, trat die Kommune verstärkt in den Blick.

2. Die Stuttgarter Sicherheitspartnerschaft

Der damalige Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster erklärte sofort nach seiner Wahl im Jahre 1997 die Kommunale Kriminalprävention zur Chefsache. Die Bewältigung der Jugendkriminalität brannte auf den Nägeln. Seine Philosophie5 war, „Sicherheit ist nicht nur eine Aufgabe der Polizei, Sicherheit geht uns alle an und ist deshalb eine gemeinsame Aufgabe. Wir brauchen die Trias, eine Gemeinschaftsinitiative von Polizei, Rathaus und Bürgerschaft.“ Der Stuttgarter Oberbürgermeister sah sofort die Win-Win-Situation, die sich für einen Kommunalpolitiker auftat: Eine Verbesserung der objektiven Sicherheit und vor allem des subjektiven Sicherheitsempfindens bedeutet einen Standortvorteil für seine Stadt. Er durfte sich bestätigt fühlen. In den folgenden Jahren war Stuttgart bei den damals beliebten Städterankings stets mit an vorderster Stelle, vor allem auch wegen der sehr guten objektiven und subjektiven Sicherheit, die mit Hilfe der im zwei Jahres Rhythmus stattfindenden Bürgerumfrage abgefragt wurde6 . Die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger Stuttgarts fühlt sich – übrigens bis heute – in Stuttgart sicher bzw. sehr sicher.

Die Schwachstellen waren im Jahr 1997 schnell erkannt. Keine gemeinsamen Strategien und Ziele von Polizei und Stadt, lange Bearbeitungszeiten durch verschiedene Behörden, keine Koordination von Verfahrensabläufen, d.h. eine Behörde wartet auf die andere. Misstrauen einzelner Behörden untereinander wurde festgestellt (z.B. Sozialarbeiter*innen, Drogenberater*innen, Polizeibeamt*innen). Es gab kaum Austausch von Daten, zum Teil aus Gründen des Datenschutzes. Die Konzeption speiste sich aus den amerikanischen und skandinavischen Erfahrungen: Wehret den Anfängen, keine Verwahrlosung des öffentlichen Raums, mehr Sauberkeit, Schaffung einer neuen Qualität der Zusammenarbeit durch gemeinsam definierte Ziele, vernetztes und gemeinsames Vorgehen der Behörden, neue Qualität durch Verknüpfung von professionellem Handeln und bürgerschaftlichem Engagement, ursachenorientierte Bekämpfung von Kriminalität und Bekämpfung der Kriminalität dort, wo sie entsteht (dezentraler Ansatz). Diese Ansätze sind inzwischen Standard, werden nach wie vor überall vertreten und sind stark verwissenschaftlicht und systematisiert worden7 .

Zentrales Anliegen war der Aufbau effizienter Strukturen. Gemeinsam mit der Stuttgarter Polizei und der Stuttgarter Bürgerschaft hat die Stadtverwaltung zentrale und dezentrale Präventionseinrichtungen aufgebaut und Kooperationen geschlossen.

Eine Zentrale Lenkungsgruppe unter dem Vorsitz des Oberbürgermeisters und des Polizeipräsidenten lenkt die Kommunale Kriminalprävention.

Stadt:
Für die Stadtverwaltung wurden sämtliche Bürgermeisterreferate, Ämter und Eigenbetriebe zur Kommunalen Kriminalprävention „verpflichtet“. Eine Stabsstelle zur Koordination der Sicherheitspartnerschaft beim Bürgermeisteramt wurde gegründet und mit einem vom Polizeipräsidium abgeordneten Polizeibeamten besetzt und von der Stadt bezahlt. Sicherheitsbeiräte in allen 23 Stadtbezirken wurden gegründet und den Bezirksbürgermeister*innen unterstellt.

Polizei:
Ein Sachbereich Kriminal- und Verkehrsprävention beim Polizeipräsidium Stuttgart wurde eingerichtet. Die Fachdezernate der Kriminalpolizei und die Dienststellen der Schutzpolizei wurden auf die Kommunale Kriminalprävention ausgerichtet. Sämtliche Polizeireviere wurden mit speziell geschulten sogenannten Präventionsbeamt*innen besetzt.

Bürgerschaft:
Der Förderverein „Sicheres und Sauberes Stuttgart“ mit einem Unternehmer als Vereinsvorsitzenden wurde gegründet. Der Verein sammelt Geld für Präventionsprojekte und initiiert selbst mit Hilfe eines Geschäftsführers eigene Projekte. Bürgerschaftliche Kooperationspartner wie Sozialdienste, kirchliche Dienste, Bürgervereine in allen Stadtbezirken, Banken, Versicherungen usw. werden förmlich einbezogen. Stand 2021 existieren in Stuttgart über 100 Sicherheitspartner.

Auch die Umsetzung der Konzeption „Stuttgarter Sicherheitspartnerschaft“ wurde festgelegt. Durch die Lenkungsgruppe erfolgt eine jährliche Festlegung der Ziele und Maßnahmen. Auf eine intensive Zusammenarbeit der jeweils beteiligten Behörden untereinander, auf Steuerung und Benchmarking in allen Stadtbezirken wird Wert gelegt. Dies alles soll in einem jährlichen Präventionsbericht niedergelegt werden. Die Stadt verpflichtete sich, alle zwei Jahre in Bürgerumfragen die subjektive Sicherheitslage nach wissenschaftlichen Kriterien zu überprüfen. Alle zwei Jahre wird ein Präventionspreis durch eine Jury verliehen. Das Preisgeld wird von einer Versicherung gespendet.

In dem Präventionsbericht werden die definierten Handlungsfelder und deren Projekte dargestellt. Themen waren anfangs neben Jugendkriminalität und Integration vor allem auch der Zusammenhang von Sicherheit und Sauberkeit. Die viel bespöttelte, weil an die schwäbische Kehrwoche erinnernde Stuttgarter Initiative „Lets putz Stuttgart“ sollte das Sicherheits- und Sauberkeitsgefühl sowie das Umweltbewusstsein vor allem bei Kindern und Jugendlichen verbessern. Sie läuft immer noch erfolgreich im bald 25. Jahr und hat inzwischen Nachahmer gefunden. Die Sauberkeit wird als „die kleine Schwester der Sicherheit“ beschrieben, ein Bild, das bei der Bevölkerung ankommt.

3. Fazit

Als Fazit kann festgestellt werden: Die objektive und subjektive Sicherheitslage hat sich seit 1997 stetig verbessert. Baden-Württemberg und Stuttgart liegen im Ranking der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) stets auf den vorderen Plätzen nach Bayern und zwei bayerischen Großstädten. Die Bürgerumfragen ergeben immer beste Werte. Auch in den Zeiten des Terrors blieb die Sicherheitslage stabil. So konnte die Studie des Statistischen Amtes der Stadt Stuttgart 8 im Jahr 2018 feststellen: „Die sprunghaft gestiegene Sorge über Terroranschläge, das Gefühl der Bedrohung durch Terrorismus in der Bevölkerung, wie es in zahlreichen bundesweiten Meinungsumfragen zum Ausdruck kommt, schlägt sich nicht im lokalen subjektiven Sicherheitsgefühl nieder.“

Die Sicherheitsarchitektur und damit auch die Kommunale Kriminalprävention haben sich in Stuttgart bis heute als stabil erwiesen. (Dies liegt sicher auch an den guten Rahmenbedingungen, die eine wirtschaftlich gesunde Metropolregion, wie die Stuttgarter Region, zu bieten hat.) Ein weiterer Aspekt der vorliegenden Studie befasst sich mit dem lokalen Sozialkapital in Stuttgart und seinen Stadtbezirken. Bekanntlich wird in der Kriminalitätsforschung der Nachbarschaft in der Wohngegend in Bezug auf die Kriminalitätsfurcht der Bewohner*innen Bedeutung beigemessen9 . Für Stuttgart kann ein sehr hohes lokales Sozialkapital innerhalb der Nachbarschaften nachgewiesen werden.

Die Erfahrungen von über 20 Jahren Kommunale Kriminalprävention in Stuttgart kann man wie folgt zusammenfassen10 :

  • Die Kommunale Kriminalprävention muss Chefsache sein, sonst gelingt sie nicht.
  • Die Institutionalisierung der Kommunalen Kriminalprävention ist für den Erfolg von elementarer Bedeutung.
  • Kommunale Kriminalprävention funktioniert nur gemeinsam, behördenübergreifend und vernetzt.
  • Es müssen Ziele definiert und Strategien entwickelt werden auf der Grundlage der Sicherheitsanalysen von Polizei und Kommune.
  • Prävention muss frühzeitig und langfristig eingesetzt werden.
  • Dort wo Kriminalität entsteht, muss sie auch bekämpft werden (dezentraler vor Ort-Ansatz).
  • Die jungen Menschen müssen einbezogen werden, bei ihnen kann langfristig die beste Wirkung erzielt werden.
  • Die Qualität der Projekte ist entscheidend, nicht der gute Wille und die Quantität.
  • Die Kommunale Kriminalprävention muss personell und finanziell gut ausgestattet werden. Sie ist aufwändig.
  • Die Kommunale Kriminalprävention bedarf der Erfolgskontrolle.

III. Was wird?

1. Bestandsaufnahme 2018 - 2020

Betrachtet man die aktuellen Bestandsaufnahmen über den Zustand der Kommunalen Kriminalprävention in Deutschland, so bietet sich ein differenziertes, aber im Ergebnis positives Bild.

Die Fortschreibung der Bestandsaufnahme der Kommunalen Kriminalprävention von 2007 auf den Stand von 2018 im Forschungsbericht des Nationalen Zentrums Kriminalprävention (NKZ) lässt zuerst einmal Zweifel aufkommen. Dort wurde ein Gremienrückgang in ländlichen Gebieten und ein Gremienausbau in urbanen Räumen festgestellt. Die Umfragen ergaben einen Rückgang von 1.000 Gremien im Jahr 2007 auf 600 Gremien im Jahr 2018, also eine Reduzierung um 40 %11 . Aber schon immer existierte die Reflexion zu den Fragen, ob denn konzeptionell das Richtige getan wird und ob Kommunale Kriminalprävention auch effektiv funktioniert12 . Auch ist die Erkenntnis nicht unbekannt, dass Kommunale Kriminalprävention in den Kommunen häufig nicht als genuine Aufgabe verstanden wird. Sie wird vielmehr als ein Nebenprodukt der sonstigen Aufgabenerfüllung wahrgenommen. Auch war der Schwerpunkt der Gremienbildung schon immer in den Flächenländern Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hessen. Dies hat für sich aber noch keine große Aussagekraft über den Zustand der Kommunalen Kriminalprävention in Deutschland.

Interessanter ist die Feststellung im Bericht von Verena Schreiber13 , welche qualitative Veränderungen der Präventionsarbeit und des Verständnisses von Sicherheit sich abzeichnen. Viele Gremien, so Schreiber, die anfänglich noch mit dem enger formulierten Ziel antraten, Kriminalität zu reduzieren und das Sicherheitsempfinden zu stärken, plädierten heute für ein umfassenderes Präventionsverständnis und wollten sich daher auch nicht mehr ausschließlich als „Kriminal“Präventionsräte verstanden wissen. So schlage auch das Deutsche Forum für Kriminalprävention vor, die Kommunale Kriminalprävention perspektivisch stärker zu einen „integrierten Sozialraumkonzept“ zu entwickeln.

Verfolgt man den Verlauf der abschließenden Podiumsdiskussion14 beim Tübinger Symposium am 11. Februar 2020, so wird dieses umfassende Präventionsverständnis bestätigt und sogar noch übertroffen. Kommunale Kriminalprävention wird durch die aktuellen Herausforderungen angereichert durch die Forderung, die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt zu berücksichtigen15 . Ein Denken in neuen Kategorien sei vonnöten, um auch all jene zu erreichen, die sich von der Globalisierung abgehängt fühlten. Die Marginalisierung und Diskriminierung betroffener Bevölkerungsgruppen seien zu beachten und einzubeziehen, und zwar nicht als passives Ziel. Die Bevölkerungsgruppen sollten vielmehr eine aktive Rolle in der Gestaltung urbaner Sicherheitspolitik spielen. Rita Haverkamp rückte die kommunalen Wege zur Balancierung (trans)nationaler gesellschaftlicher Ängste und der gemeindlichen Gestaltung „eines guten Lebens“ in den Mittelpunkt der Erörterung. Damit wird der „Well-Being“ Ansatz der OECD als Qualitätskriterium Kommunaler Kriminalprävention eingeführt und weitet die Aufgaben der Kommunen aus. Damit beginnt verstärkt der Blick über die kommunalen und nationalen Grenzen. Anna Rau vom Deutsch-Europäischen Forum für Urbane Sicherheit (DEFUS) erwähnt verschiedene Faktoren, die maßgeblich für ein „gutes Leben“ sind, wobei der Sicherheit eine zentrale Rolle zukomme. In Kanada werde mit den Kommunen ein „Well-Being and Community Safety“ Ansatz verfolgt.

Als weiteres Beispiel erweiterten Denkens wird die Rockefeller Foundation genannt, die programmspezifisch die Resilienz von Städten analysiert hat – mit dem Ergebnis, dass chronische Stressfaktoren, wie etwa Gewalt oder Arbeitslosigkeit, die Möglichkeiten von Städten auf unvorhergesehene Krisen und Ereignisse zu reagieren, stark beeinträchtigten. Genannt werden einige europäische Städte wie Rotterdam, Athen und Paris, die sogenannte „Resilienzbeauftragte“ eingestellt haben. Sie sollen die dortige Resilienzstrategie umsetzen und koordinieren. Dabei ist allerdings kritisch zu fragen, ob das Modethema Resilienz nicht alten Wein (Sicherheit- und Katastrophenvorsorge) in neue Schläuche (Resilienzstrategien und -beauftragte) gießt.

Überhaupt hat man den Eindruck, dass das „Beauftragtenwesen“ mit der Komplexität der Aufgabenbereiche zunimmt und die Gremien der Kommunalen Kriminalprävention dann schwächen kann, wenn die Beauftragten gerne außerhalb des KKP Systems angesiedelt werden. Neuestes Beispiel ist der sogenannte Nachtbürgermeister bzw. Nachtbeauftragter, in der Regel eine Koordinierungsstelle für das Nachtleben, z.B. in Stuttgart, Mannheim, Heidelberg und Mainz. Im Stuttgarter Projekt wird das Ziel beschrieben, die Interessen von Clubs, Bars, Anwohnenden und Stadtverwaltung besser aufeinander abzustimmen16 . Die Koordinierungsstelle arbeitet behördenübergreifend, muss sich aber eng mit der Polizei und den Ordnungsbehörden ebenso wie Jugendamt und anderen Stellen der Jugendfürsorge abstimmen. Dies ist eigentlich eine originäre Aufgabe einer Koordinierungsstelle für Kommunale Kriminalprävention.

2. Herausforderungen und Megathemen der Zukunft

Dennoch kann man beruhigt feststellen, dass die Institutionen und Gremien der Kommunalen Kriminalprävention, was die thematischen Herausforderungen betrifft, auf der Höhe der Zeit sind. Erich Marks stellt in seiner aktuellen Betrachtung zur Entwicklung der Kommunalen Kriminalprävention auf dem Tübinger Symposion im Februar 2020 fest17 : Kommunale Kriminalprävention ist ein Ongoing Prozess, sie stellt sich den aktuellen Herausforderungen, bringt Partner zusammen und denkt global. Den Beweis am Puls der Zeit zu sein tritt Erich Marks mit seiner Mannschaft mit der Auswahl der Themen des jährlichen Präventionstages seit Jahren an. Auch die sogenannten Megathemen der Zukunft werden gesehen und angesprochen.

Einige wichtige Beispiele sind zu nennen, die frühzeitig erkannt worden sind und jetzt nachhaltig, ernsthaft und effektiv bearbeitet werden müssen:

  • Bildung, Erziehung und Krise COVID 19 – DPT 2021 Schwerpunkthema „Prävention orientiert“ und „Kölner Erklärung“.
  • Die digitale Herausforderung – DPT 2020 Schwerpunktthema „Smart Prevention – Prävention in der digitalen Welt“.
  • Demokratiegefährdung – DPT 2019 Schwerpunkthema „Prävention und Demokratieförderung“.
  • Extremismus – DPT 2018 Schwerpunktthema „Gewalt und Radikalität – Aktuelle Herausforderungen für die Prävention“.
  • Zuwanderung und Integration – DPT 2017 – Schwerpunktthema „Prävention & Integration“.

Diese neuen Themen, einschließlich der Bewältigung terroristischer Lagen, lassen sich nicht mehr lokal bewältigen. Im Zeitalter der Globalisierung, des Klimawandels, der Zuwanderung und der digitalen Welt löst sich die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit, von urbanen Lösungen und internationaler Bewältigung immer mehr auf. Der Mehrwert des kommunalen Handelns darf aber bei diesen Megathemen nicht vernachlässigt werden. Die Formel18 lautet: Global denken, kommunal handeln. Das ist moderne Kommunale Kriminalprävention.

3. Ausblick/Nacharbeiten

Beim Ausblick darf der Blick auf die Folgen der COVID Pandemie auf unsere Gesellschaft und unsere urbane Sicherheit nicht fehlen. In der Kölner Erklärung des 26. Deutschen Präventionstages in Köln ist dieses Zukunftsthema angesprochen. Der Deutsche Präventionstag betont in der Kölner Erklärung19 , dass die Prävention in Krisenzeiten richtungsweisender Ratgeber und Orientierungspunkt sein kann und betont die aus präventiver Sicht notwendigen Eckpunkte für

  • Orientierung in der aktuellen Krisensituation
  • Orientierung im Hinblick auf die Gestaltung der Zukunft
  • Notwendige Um- und Neuorientierung.

Damit ist das Programm für eine Anpassung der Kommunalen Kriminalprävention in Zukunft genauso geschrieben, wie das Programm für die nächsten Präventionstage.

Eine Herausforderung für die Kommunale Kriminalprävention ist nach wie vor die nachhaltige Überzeugungsarbeit im Stadtrat/Gemeinderat, bei den eigenen Behörden und in der Bürgerschaft. Stets muss dafür geworben werden, dass Vorsorgeprojekte im Bereich der Sicherheit sich langfristig auszahlen. Insoweit muss an der Information und Überzeugung unablässig gearbeitet werden, um deutlich zu machen, welche Bedeutung eine kontinuierliche und nachhaltige professionelle und wissenschaftlich gestützte Präventionsarbeit hat. Das ist nicht einfach bei jahrelang guter Sicherheitslage, da sinkt das Problembewusstsein. Politischer und sachlicher Fortschritt wird dann häufig erst durch schlechte Meldungen verursacht. So war es auch bei der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vom 20. auf 21. Juni 202020 , die Defizite von Streetwork in der Innenstadt aufdeckte. Die Mehrheit des Stadtrates hatte einige Jahre zuvor die dringliche Bitte nach einer Verlängerung der Streetwork in der Innenstadt ohne große Begründung abgelehnt. Endlich ist beschlossen worden, dass die Stuttgarter Erfindung, das Haus des Jugendrechts, auf das gesamte Stadtgebiet ausgedehnt wird. Bisher war die Ausdehnung an den klassischen Hürden gescheitert: Wenig Problembewusstsein durch gute Statistiken, mangelnde Finanzierung, Streit über Zuständigkeiten und das unbequeme Gehen neuer ungewohnter Wege in der Sachbearbeitung.

Schließlich ist festzustellen, dass sich die Polizei aus Gründen anderer wichtiger Aufgaben (Demonstrationen, Terrorschutz und digitale Straftatenverfolgung u.a.) aus dem Thema der Kriminalprävention teilweise zurückziehen muss. Dies ist zu bedauern, da die Polizei mit ihrer Fachkompetenz und Autorität einen unverzichtbaren Bestandteil der Kommunalen Kriminalprävention darstellt. An dem professionellen Ausbau der Kommunalen Kriminalprävention auf den Schultern der kommunal Verantwortlichen geht deshalb kein Weg vorbei21

 

1 Martin Schairer, Zehn Wege zu einer sicheren Stadt – das Stuttgarter Sicherheitskonzept, Die Polizei, 2006, S. 65 ff.

2 Martin Schairer, Das Haus des Jugendrechts in Stuttgart, Gedächtnisschrift für Rolf Keller, S. 254 ff., Mohr/Siebeck, Tübingen, 2003

3 Erwin Hetger, Kommunale Kriminalprävention- Netzwerke für mehr Sicherheit; aus: Bannenberg, Coester, Marks (Hrsg.) Kommunale Kriminalprävention. Ausgewählte Beiträge des 9. Deutschen Präventionstages 17. und 18. Mai 2004 in Stuttgart, Forum Verlag Godesberg 2005, S. 197 ff.

4   Franz-Hellmut Schürholz, Eingangsstatement des Präsidenten des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg am 17. Mai 2004 beim 9. Deutschen Präventionstag in Stuttgart, zum Workshop Kommunale Kriminalprävention – Erfolgsfaktoren und Perspektiven des Vor-Ort-Ansatzes, in: Kerner, Hans-Jürgen u. Marks, Erich (Hrsg.), Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover 2004, S. 5 f.

5 Wolfgang Schuster, Stuttgarter Sicherheitspartnerschaft – i-nse.org.

6 Schairer/Schöb/Schwarz, Öffentliche Sicherheit in Stuttgart – Das Sicherheitsgefühl ist so wichtig wie die Kriminalstatistik. Ergebnisse der Bürgerumfragen von 1999-2009, Kriminalistik, 2010, S. 705 ff.

7 Zum neuesten Stand siehe Beiträge in: Rita Haverkamp und Franca Langlet, Auf den Spuren der Kommunalen Kriminalprävention in Deutschland, Symposium am 11. Februar 2020, Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Hrsg. Kinzig/Kerner, Band 44, Tübingen 2020

8 Monatsheft 02/2018 Hrsg. LHS Stuttgart, Statistisches Amt, Eberhardstr. 39, 70173 Stuttgart, S. 28 ff. www.stuttgart.de/statistik-infosystem

9 Studie aaO (Fußn.8) S. 55 f.

10 Martin Schairer, aaO (Fußn.1) S. 65 f.

11 Verena Schreiber, unter Mitarbeit von Lena Münch und Jens Schreiber, Kommunale Kriminalprävention in Deutschland 2018 – Fortschreibung einer Bestandsaufnahme 2007, Hrsg. Nationales Zentrum Kriminalprävention, Bonn 2019

12 Wolfgang Kahl, aaO (Fußn.7) S. 75

13 aaO (Fußn.11) S. 8

14 Franca Langlet aaO (Fußn.7) Podiumsdiskussion – Auf den Spuren der kommunalen Kriminalprävention in Deutschland: Anfänge – Etablierung – Perspektiven in Wissenschaft und Praxis S. 93 ff.

15 Anna Rau, aaO (Fußn.7) S. 108

16 Konzeption der Scene Vertretung Club Kollektiv e.V. Stuttgart, URL: https://www.clubkollektiv.de/ (Zugriff vom 1.6.2021); Hendrik Meier ist erster Nachtbürgermeister Deutschlands: URL: https://www.spiegel.de/karriere/mannheim-student (Zugriff vom 31.5.2021)

17 Erich Marks, Die Entwicklung der kommunalen Kriminalprävention in Deutschland – aus der Praxis. S. 15 ff. in: Tübinger Symposium (Fußn.7)

18 Erich Marks aaO (Fußn.7 und 17) S. 36

19 Kölner Erklärung des 26. Deutschen Präventionstages, URL: https://www.praeventionstag.de/html/download.cms?id=1174&datei=Koelner-Erklaerung_26DPT_final-1174.pdf (Zugriff 1.6.2021)

20 Wikipedia Stuttgarter Krawallnacht, Krawallnacht Juni 2020: Aufarbeiten nicht nur Strafen. URL: https://www.stuttgart.de/service/aktuelle-meldungen/april-2021/krawallnacht-2020-aufarbeiten-nicht-nur-strafen.php 30.4.2021

21 Martin Schairer, Sicher leben in der Stadt – der zentrale Beitrag der kommunalen Mandatsträger, aus: Erich Marks & Wiebke Steffen (Hrsg.) Sicher leben in Stadt und Land, Ausgewählte Beiträge des 17. Deutschen Präventionstages am 16. und 17. April in München, Forum Verlag Godesberg, 2013, S. 297-302