Mehr Prävention – weniger Opfer
22/23 April 2013
  • 2.796 Kongressteilnehmende und Besucher*innen davon 63 aus 20 Staaten
  • 169 Referierende
  • Abschlussvortrag „“Parallel Justice“ – Warum brauchen wir eine Stärkung des Opfers in Recht und Gesellschaft?“ von Prof. Dr. Christian Pfeiffer
  • 7. Annual International Forum (AIF)
  • 122 Vortragsbeiträge (Vorträge, Projektspots)
  • 168 Ausstellungsbeiträge (Infostände, Infomobile, Sonderausstellungen, Poster)
  • Bühnenveranstaltungen
  • Filmforum
  • 9 Begleitveranstaltungen
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Am 22. & 23. April 2013 bildete die Stadthalle Bielefeld in Nordrhein-Westfalen den Austragungsort des 18. Jahreskongresses. Unter der Schirmherrschaft der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft widmete sich das Präventionsfachpublikum dem Schwerpunktthema „Mehr Prävention – weniger Opfer“. Das Bielefelder Präventionsforum bot in der Woche vor dem Kongress bereits ein vielfältiges Programm für die Bielefelder Bürgerinnen und Bürger.

25. Jahre Deutscher Präventionstag
Ein Beitrag von Gisela Mayer

Psychologin; Initiatorin und Vorsitzende der „Stiftung gegen Gewalt an Schulen“

„Prävention ist der beste Opferschutz. Und auch deshalb ist sie wichtig für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.“ Mit diesen Worten hatte die Schirmherrin des Kongresses, die Ministerpräsidentin von NRW Hannelore Kraft, 2013 das zentrale Thema dieses Kongresses beschrieben.
Ich selbst habe in Bielefeld als Gründungsmitglied und Vorstand des „Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden“, das 2009 nach dem Amoklauf in Winnenden und Wendlingen gegründet wurde, mit einem Vortrag zum Thema „Was brauchen unsere Kinder, damit sie Gewalt nicht brauchen“ teilgenommen.
Opferschutz ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Haltung, die eine Gesellschaft gegenüber den Menschen einnimmt, die von Mitgliedern dieser Gesellschaft geschädigt wurden, ist kennzeichnend für ihren Zusammenhalt. Das Schwerpunktthema in diesem Jahr verdankte sich dabei einer Entwicklung, die gegen Ende der 1970er Jahre begann und durch die Zuwendung zu den Opfern von Straftaten gekennzeichnet war. Diese zum Zeitpunkt des Kongresses 25 Jahre andauernde Entwicklung wurde in Form einer Zwischenbilanz zusammengefasst und in ihrer prospektiven Entwicklung diskutiert.
Auf Basis der „Bielefelder Erklärung des 18. Deutschen Präventionstages“ und den Erkenntnissen des Gutachtens von Dr. Wiebke Steffen „Opferzuwendung in Gesellschaft, Wissenschaft, Strafrechtspflege und Prävention: Stand, Probleme, Perspektiven“ seien hier einige wesentliche Ergebnisse des Bielefelder Jahreskongresses kurz dargestellt.

I   Die empirische Datenlage zur Opferwerdung und Opferbedürfnissen

Es besteht eine deutliche Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und den vorliegenden empirischen Befunden. Die gesellschaftliche Wahrnehmung gilt vor allem Opfern von Gewalttaten und hier den sogenannten „idealen“ Opfern: Kindern, Frauen, Älteren und Pflegebedürftigen. Junge Männer werden als Opfer gewalttätiger Übergriffe nicht zureichend berücksichtigt.
Die Forderung des Deutschen Präventionstages bezieht sich daher neben einer opferberücksichtigenden Erweiterung der täterorientierten Kriminalstatistiken auf regelmäßige, repräsentative Opferbefragungen, die auch Opferbedürfnisse und die Folgen von Viktimisierungen erfassen.

II   Opferzuwendung in der Strafrechtspflege

Die Erweiterung der Opferrechte durch die Anpassung der Opferschutzgesetze steht in Widerspruch zu der unverändert beklagten sekundären Viktimisierung von Opfern im Rahmen von Strafverfahren. Auch in diesem Bereich ist die Datenlage unzureichend.
Als Ergebnis wird festgehalten, dass die Strafrechtspflege prinzipiell den Wünschen und Bedürfnissen von Opfern nicht gerecht werden kann, insofern sie täterorientiert ist und die Aufgabe des Geschädigten als Opferzeuge notwendig mit Belastungen verbunden ist.
Die Forderung des Deutschen Präventionstages bezieht sich daher auf eine Evaluierung der Opferschutzgesetze sowie quantitative wie qualitative kriminologisch-viktimologische Untersuchungen im Hinblick auf die Belastung von Geschädigten durch die Strafrechtspflege.
Als ohne Einschränkung zu berücksichtigen werden folgende Bedürfnisse und Wünsche von Opfern von Straftaten erachtet:

  • Information (insbesondere über den Fortgang des Verfahrens)
  • Schadensersatz, Wiedergutmachung
  • Anerkennung des ihnen, den Opfern, widerfahrenen Unrechts.

III  Soziale Unterstützung, Hilfe und Wertschätzung außerhalb der Strafrechtspflege

Emotionaler Beistand und soziale Unterstützung werden vor allem durch den sozialen Nahraum und professionelle Opferhilfeeinrichtungen erbracht.
Als besonders wichtig hat sich das Opferinteresse nach Anerkennung der widerfahrenen Straftat als zugefügtes Unrecht erwiesen. Wesentlich ist für Opfer dabei auch die Befreiung von vermuteter Mitschuld durch naives, provozierendes oder anderweitig auffallendes Verhalten.
Die Problematik männlicher Gewaltbetroffenheit wird im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs zu wenig berücksichtigt, insbesondere unter dem Aspekt des Opfer-Täter Statuswechsels.
Perspektivisch wird seitens des Deutschen Präventionstages vorgeschlagen, die Konzeption der „Parallel Justice“ als einer zusätzlichen, zeitgleichen, ressort- und instanzenübergreifenden opferzentrierten Reaktion zu prüfen und gegebenenfalls in den Gremien kommunaler Kriminalprävention zu implementieren.

IV  Prävention ist der beste Opferschutz

Insofern selbst opferbezogene Strafrechtspflege und Opferschutz wie Opferhilfe die physischen und psychischen wie die materiellen Folgen der Opferwerdung nicht ausgleichen können, bleibt die klassische Kriminalprävention im Sinne einer Verhinderung von Straftaten der wirkungsvollste Opferschutz.
Opferbezogene Kriminalprävention bedeutet dabei nicht eine Form der Prävention, die vom Opfer zu vollziehen ist, sondern umfasst die Aufgaben klassischer Kriminalprävention unter besonderer Berücksichtigung der Gefahr von Re-Viktimisierung und sekundärer Viktimisierung. In diesem Zusammenhang ist besonders darauf zu achten, dass keine Ängste hinsichtlich erneuter Opferwerdung entstehen und dem Opfer keine Mitschuld an der erfolgten Straftat gegeben wird (vgl. Bielefelder Erklärung, 2014).
Die Ergebnisse und Erkenntnisse aus den Debatten im Jahr 2013 in Bielefeld sind zum einen als Zusammenfassung einer 25 Jahre andauernden Entwicklung zu verstehen, die die Opfer von Straftaten in den Blick nimmt, zum anderen aber vor allem als Aufforderung, die Probleme des Opferschutzes und der Opferhilfe im Rahmen der Strafrechtspflege wie in gesellschaftlichen Kontexten zu benennen und ihre Bewältigung voranzutreiben.
Seit dem 18. Deutschen Präventionstag sind sieben Jahre vergangen.
Was hat sich seitdem für die Opfer in Gesellschaft und den anderen genannten Bereichen getan? Sind die damals genannten Probleme beseitigt oder zumindest verringert worden? Sind neue Probleme aufgetaucht? Was sind die gegenwärtig wesentlichen Perspektiven für eine positive Weiterentwicklung?
Auch wenn Strafrechtspflege aufgrund ihrer Täterorientierung prinzipiell ungeeignet bleibt, die Opferinteressen insgesamt zu berücksichtigen, wurden die Rechte der Opfer im Zusammenhang mit Strafverfahren gestärkt.
Durch das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) wurden mit Wirkung vom 1. September 2013 neben anderen Verbesserungen auch die kostenlose Beiordnung eines Opferanwalts und das Recht des Opferzeugen, sich zu den Tatfolgen zu äußern, erweitert. Die Bestimmungen über die richterliche Videovernehmung anstelle einer belastenden Vernehmung in der Hauptverhandlung wurden dem Schutzinteresse der Opferzeugen angepasst.
Die EU-Opferschutzrichtlinie vom 25.10.2012 war Anlass für das 3. Opferrechtsreformgesetz vom Dezember 2015, in dem vor allem die Informationsrechte des Verletzten erweitert und die psychosoziale Prozessbegleitung für besonders schutzbedürftige Opfer eingeführt wurden. Opfer haben das Recht auf Ersatz erlittenen materiellen Schadens und auf Schmerzensgeld (vgl. WEISSER RING, Allgemeine Opferrechte, www.weisser-ring.de).
Seit dem 11. April 2018 ist ein Beauftragter der Bundesregierung für die Anliegen von Opfern und Hinterbliebenen terroristischer Straftaten zuständig.
Die Rechte der Opfer von Straftaten wurden damit insgesamt gestärkt. Dabei war vor allem das Interesse an Information, Beteiligung und Schadensersatz/Wiedergutmachung handlungsleitend.

Was ist mit dem Wunsch der Opfer von Straftaten nach Anerkennung erlittenen Unrechts?
Häufig wird angenommen, zu den Hauptinteressen der Opfer von Straftaten zählen Straf- und Genugtuungswünsche. Sie sind jedoch von eher geringer Bedeutung im Vergleich zu dem Wunsch nach Anerkennung des erfahrenen Unrechts sowie der Benennung der Taten und der Täter. Es geht den Opfern um die eindeutige Anerkennung ihres Opferstatus durch das soziale Umfeld, aber gerade auch durch die Strafverfolgungsbehörden (vgl. Steffen, 2014, 86).
„Die Anerkennung der Strafbarkeit bedeutet die Anerkennung, dass Unrecht geschehen ist. (…) Der Täter durfte nicht tun, was er getan hat. Das Opfer hat nicht nur Schaden erlitten, sondern ihm ist Unrecht geschehen“ (Reemtsma, 2006, 17). Die in der Strafe des Täters liegende formelle Missbilligung hat die Funktion, gegenüber dem Opfer zum Ausdruck zu bringen, dass ihm Unrecht geschehen sei und es nicht verpflichtet war, das Verhalten des Täters zu akzeptieren (vgl. Weigend, 2010, 43).
Die Anerkennung erlittenen Unrechts ist jedoch eng gebunden an den Begriff des Opfers als des unschuldigen Leidtragenden in einer Situation, die durch eine oder mehrere andere Personen verursacht und dominiert wurde.
Der Begriff des Opfers ist jedoch, unabhängig davon, ob er von dem Geschädigten selbst oder durch andere zugeschrieben wird, problematisch.

Die Ambivalenz des Opferbegriffs
„Der Status des Opfers ist stets etwas – von der Person selbst aber auch vom Umfeld und der Gesellschaft – Zugeschriebenes (...) (und diese Zuschreibung) ist nicht frei von Ambivalenzen. Auf der individuellen Ebene oszillieren die damit verbundenen Haltungen zwischen Sympathie und Hilfsbereitschaft auf der einen und Abwertung und Ablehnung auf der anderen Seite“ (Görgen, 2012, 90).

Opfer sind „schwach“
Der Begriff des „Opfers“ wird mit Vorstellungen wie „schwach“, „hilflos oder hilfsbedürftig“, „abhängig“, „passiv“ assoziiert und wertet die geschädigte Person in ihrem sozialen Status ab. Dem Opfer wird nicht nur Empathie und Unterstützung, sondern auch Abwertung und Ablehnung entgegengebracht.
Die gesellschaftliche Abwehrhaltung charakterisiert Margarete Mitscherlich zutreffend mit Verweis auf Abgrenzungsversuche hinsichtlich eigener Defizite. „Opfer sind peinlich, denn sie erinnern uns an unsere eigene Schwäche und Niederlage“ (in: Maercker, 2006, 53).

Opfer sind „unschuldig“
Opfer sind diejenigen, die ohne eigenes Verschulden verletzt oder missbraucht wurden und die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Begriff „Opfer“ steht im Allgemeinen für öffentlich gemachten, privaten Schmerz, der diejenigen, als die „zu Unrecht Verletzten“ moralisch adelt und ihnen damit eine besondere Form der Macht verleiht: die der Ohnmächtigen. Es geht dabei um eine besondere Form der Ohnmacht: die Unschuld.
In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit sind es diese „idealen“ Opfer – Kinder, Frauen (insofern sie sich nichts „zuschulden“ kommen lassen), Ältere, Pflegebedürftige – denen Empathie und Respekt entgegengebracht werden (vgl. Steffen, 2014, 55).
Geschädigte, die nicht dem Personenkreis der „idealen Opfer“ angehören, erfahren häufig soziale Ausgrenzung und Abwertung. Die soziale Anerkennung der Straftat als erlittenes Unrecht wird eingeschränkt oder sogar verweigert. Dies ist insofern bedenklich, als die Befunde der Kriminalstatistik im Hellfeld und die Forschung der Viktimologie im Dunkelfeld höhere Opferzahlen gerade bei Männern und bei jüngeren Menschen ergeben.

Opfer sind „passiv“
Ein Opfer ist jemand, der passiv Unrecht erleidet. In der modernen Leistungsgesellschaft wird das Opfer nicht mehr als Subjekt wahrgenommen, das autonomer Gestalter des eigenen Lebens ist. Ein Opfer versteht sich selbst, oder zugeschrieben durch andere, als Spielball globaler Kräfte, die sein Leben bestimmen. Passivität wird zum Schlüssel des eigenen Selbstverständnisses.
Diese Passivität speist sich paradoxerweise aus zunehmender Aktivität hinsichtlich der Erzählungen, deren Autor*innen die Opfer selbst, die Medien oder andere Kommentatoren sind.
„Der öffentliche, namentlich mediale Diskurs wird zunehmend durch die Beschäftigung mit Verbrechensopfern geprägt. In Presse, Funk, Fernsehen wird über Opferschicksale berichtet; in Talk-Shows treten Opfer und deren Angehörige auf. Es scheint nicht übertrieben, von einem Zeitalter des Opfers zu sprechen. Die Solidarität mit dem Opfer verbindet das Gemeinwesen; die Gesellschaft wird „viktimär““ (Barton/Kölbel, 2012,14).
„Opfersein ist in der viktimären Gesellschaft mit Prestige, mit Anerkennung, Aufmerksamkeit, Rechten und Privilegien verbunden … Überspitzt ließe sich für die viktimäre Gesellschaft sogar sagen: „Alle wollen Opfer sein““ (Barton, 2012, 117).
Opfersein wird zum Referenzpunkt für die Zuschreibung individueller Eigenschaften, das schwache, leidende Opfer wird zum Grundmodell der Typisierung von Individuen. Damit die Identität als Opfer nicht ihre Existenzberechtigung verliert, muss das Leid erinnert und erzählt werden. Dieses Ritual der Rede vom „Opfer“ trägt dazu bei, die Ambivalenz der menschlichen Existenz zu reduzieren. Die moralische Unschuld des Opfers wird mit der moralischen Schuld des Täters kontrastiert. Beides dient der Orientierung in einer komplexen modernen Gesellschaft.
Dabei sind die Interessen der Opfer von Straftaten selbst „tendenziell dilemmatisch" (Reemstma, 2006, 18). „Wer Opfer eines Verbrechens geworden ist, will, dass sich die Umwelt darauf einstellt – und will gleichzeitig nicht auf diese Rolle festgelegt werden“ (Reemstma, 2006,18).
Der Umgang mit Opfern von Straftaten in einer Gesellschaft ist demzufolge weit davon entfernt, einen Bereich zu beschreiben, der an Teile der Gesellschaft und deren professionelle Vertreter, die Strafrechtspflege und Opferschutz- und Opferhilfeorganisationen, delegiert werden könnte. Der Umgang mit Opfern dient der Orientierung und Identitätssicherung der Gesellschaft selbst. Opferkulturen haben dabei die Tendenz, den Status der Opfer zu perpetuieren.
Bernhard Schlink (2005) setzt in diesem Zusammenhang dem normativen Paradigma: „Auf welchen Ansprüchen darf und muss ich als ungerecht Behandelter bestehen, bevor ich selbst aktiv werde?“ das pragmatische Paradigma entgegen: „Was kann ich – auch als ungerecht Behandelter – selbst dafür tun, damit ich unter den gegebenen Umständen wieder würdig und entsprechend meinen legitimen Ansprüchen leben kann?“
Ziel jeder Unterstützung von Opfern von Straftaten muss es deshalb sein, es den Betroffenen zu ermöglichen, Abschied von der Opferrolle zu nehmen sowie Autonomie und Handlungsverantwortlichkeit wieder zu erlangen (vgl. Steffen, 2012, 143).
Die öffentliche Anerkennung erlittenen Unrechts als Unrecht, als nicht hinzunehmende Tat eines Einzelnen oder Mehrerer, dient nicht nur der Rehabilitation der Identität des Opfers als des moralisch Unschuldigen, sondern sie dient vor allem der Selbstvergewisserung und Identitätssicherung der Gesellschaft. Angesichts der Komplexität der Welt und moderner Gesellschaften muss immer wieder verdeutlicht werden, dass es eine eindeutige Grenze zwischen berechtigtem und insofern hinzunehmendem Verhalten und Unrecht als nicht hinzunehmendem Verhalten innerhalb der Gesellschaft gibt. Diese Grenzziehung dient nicht nur der Rehabilitation dessen, der Unrecht erfahren hat, sie dient vielmehr dem Selbstverständnis einer Gesellschaft.
Opferbezogene Prävention kann aus diesem Grund nur als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden und nicht an professionelle Gremien delegiert werden. Die Aufgabe der Zukunft wird darin bestehen, Opfer von Straftaten als integralen und identitätsstiftenden Bestandteil jeder Gesellschaft zu begreifen. Sollte die Integration der Opfer von Straftaten in die Gesellschaft nicht gelingen, läuft eben diese Gesellschaft – unabhängig davon, ob die Ausgrenzung in Überfürsorge oder in Abwertung besteht – Gefahr, erneut Gewalttaten und somit weitere Opfer zu provozieren.
Jede Form der Ausgrenzung, sei es durch Ritualisierung der Opfererzählung und Perpetuierung des Opferstatus durch Hilfsangebote oder die Abwehr der Anerkennung des Opferstatus aufgrund eigener Vermeidungsstrategien, tangiert die „Schmerzgrenze“ des Opfers und löst Aggression aus.
„Wenn die Schmerzgrenze eines Lebewesens tangiert wird, kommt es zur Aktivierung des Aggressionsapparates und zu aggressivem Verhalten … Zugehörigkeit und Akzeptanz zählen zu den lebenswichtigen Ressourcen. Demütigung und Ausgrenzung werden vom menschlichen Gehirn wie körperlicher Schmerz erlebt, sie tangieren die Schmerzgrenze. Daher führen beim Menschen nicht nur die Zufügung körperlicher Schmerzen oder eine physische Bedrohung zu Aggression, sondern auch alle Erfahrungen, die aus der Sicht des Betroffenen eine soziale Ausgrenzung oder persönlichen Demütigung gleichkommen“ (Bauer, 2011, 65).
Joachim Bauer beschreibt diesen Zusammenhang an anderer Stelle wie folgt:
„In modernen Gesellschaften stehen sich auf Zusammenhalt gerichtete und auseinanderstrebende Kräfte gegenüber. Besondere Gefahren drohen dem Zusammenhalt einer Gesellschaft von Menschen, die ausgegrenzt sind, sich ausgegrenzt fühlen oder denen man eingeredet hat, sie seien ausgegrenzt. Viele dieser Menschen sammeln sich in Gruppen, deren Kennzeichen ein ständig aggressiver Ton, … ist“ (Bauer, 2020, 121). Es gibt heute bereits Opfergruppen mit Opfervertreter*innen, die ihre Aufgabe in dieser aggressiv vorgetragenen Schuldzuweisung an öffentliche Institutionen oder Personen sehen.
Die Perpetuierung des Opferstatus und die mediale Zurschaustellung der Opfer, die Ausgrenzung der Opfer von Straftaten zur eigenen Identitätssicherung als „denjenigen, denen „so etwas“ nicht passieren kann“, wird weder den Interessen der Opfer von Straftaten noch den Interessen der Gesellschaft nach Zusammenhalt und Identität gerecht.
Es geht vielmehr darum, zugefügtes Unrecht als solches zu benennen und zu ahnden und damit die Opfer in ihrem Bestreben nach Anerkennung und zugleich Auflösung ihres Opferstatus zu unterstützen.
Im Hinblick auf die Kernaufgabe der Prävention, die Verminderung von Gewalt und Verhinderung von Straftaten, sollte uns allen daran liegen, Ausgrenzung zu vermeiden. Es geht bei der opferbezogenen Prävention keineswegs nur darum, denjenigen, die Unrecht erlitten haben, angemessen zu begegnen, es geht vielmehr um uns alle.

Literatur:

  • Barton, Stephan (2012): Strafrechtspflege und Kriminalpolitik in der viktimären Gesellschaft. Effekte, Ambivalenzen und Paradoxien, in: Barton, Stephan/ Kölbel, Ralf (Hrsg.): Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts. Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland. Baden-Baden: Nomos
  • Barton, Stephan/Kölbel, Ralf (2012) (Hrsg.): Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland. Baden-Baden: Nomos
  • Bauer, Joachim (2020): Fühlen was die Welt fühlt, München
  • Bauer, Joachim (2011): Schmerzgrenze, München
  • Deutscher Präventionstag und Veranstaltungspartner (2014): Bielefelder Erklärung, in: Erich Marks & Wiebke Steffen (Hrsg.): Mehr Prävention – weniger Opfer. Ausgewählte Beiträge des 18. Deutschen Präventionstages, 22. und 23. April 2013 in Bielefeld, Forum Verlag Godesberg GmbH 2014, S. 5-10
  • Görgen, Thomas (2012): Zum Stand der internationalen viktimologischen Forschung, in: Barton, Stephan/Kölbel, Ralf (Hrsg.): Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts, Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland. Baden-Baden: Nomos, S. 89-109
  • Maercker, Andreas (2006): Opfererfahrungen im Kontext. Soziale Bedingungen für psychische Spätfolgen, in: WEISSER RING (Hrsg.): Opfer bleibt Opfer? Dokumentation des 16. Opferforums Berlin, Baden-Baden: Nomos
  • Reemtsma, Jan Philipp (2006): Was sind eigentlich Opferinteressen? Überarbeitetes Manuskript einer Ansprache anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des WEISSEN RINGS in Hamburg. die neue polizei 03/2006, S. 16-18
  • Schlink, Bernhard (2005): Vergewisserungen. Über Politik, Recht, Schreiben und Glauben
  • Steffen, Wiebke (2012): Polizeiliches Verhalten bei Opfern von Sexualstraftaten am Beispiel der Opfer von Vergewaltigungen und sexuellen Nötigungen, in: Barton, Stephan/ Kölbel, Ralf (Hrsg.): Ambivalenzen der Opferzuwendung des Strafrechts. Zwischenbilanz nach einem Vierteljahrhundert opferorientierter Strafrechtspolitik in Deutschland. Baden-Baden: Nomos
  • Steffen, Wiebke (2014): Gutachten für den 18. Deutschen Präventionstag: Mehr Prävention – weniger Opfer, in: Erich Marks & Wiebke Steffen (Hrsg.): Mehr Prävention – weniger Opfer. Ausgewählte Beiträge des 18. Deutschen Präventionstages, 22. und 23. April 2013 in Bielefeld, Forum Verlag Godesberg GmbH 2014, S. 51-122
  • Weigend, Thomas (2010): Die Strafe für das Opfer? – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht. RW – Heft 1  2010, S. 39-57